Gefühlsstarke Kinder - was ist das überhaupt? Haben nicht alle Kinder starke Gefühle, in manchen Phasen ausgeprägter, in anderen weniger? Durchaus, aber bei den in diesem Buch beschriebenen Kindern geht es um eine bestimmte Temperamentsausprägung, um Kinder, die einfach anders sind als ihre Altersgenossen, die von allen Gefühlen nur die Extremvariante zu kennen scheinen und die selten richtig ausgeglichen oder mit sich im Reinen zu sein scheinen: "Sie sind extrem feinfühlig und gleichzeitig extrem impulsiv, extrem neugierig und extrem schnell von neuen Reizen überfordert, extrem nähebedürftig und extrem freiheitsliebend, extrem mutig und extrem ängstlich, extrem begeisterungsfähig und extrem schnell am Boden zerstört." (S. 18f.) Sie sind bedürfnisstärker, fordernder und damit für ihre Bezugspersonen anstrengender als andere Kinder und gleichzeitig steckt in ihnen ein großartiges Potential, das mit empathischer und adäquater Begleitung zur Entfaltung gebracht werden kann.
Definition
Den Begriff "Gefühlsstarke Kinder" hat Nora Imlau in Anlehnung an Mary Sheedy Kurcinkas Terminus "Spirited Children" geschaffen. Ich habe das wunderbare Buch von Kurcinka, das auch Nora Imlau inspiriert hat, unlängst hier vorgestellt. Bei Kurcinka geht es ebenfalls um Kinder mit einer bestimmten Spielart des Temperaments, und Nora Imlau greift diese Erkenntnisse auf und hat mit "So viel Freude, so viel Wut"* das erste deutschsprachige Buch zu diesem Thema vorgelegt. Auch hat sie die Facebookgruppe "Gefühlsstarke Kinder verstehen und begleiten" gegründet, in der ein sehr ausgewogener, empathischer Austausch stattfindet. Der Begriff "Gefühlsstarke Kinder" soll explizit den Fokus auf die positiven Aspekte dieses Temperaments legen, anstatt immer wieder genannte Attribute wie schwierig, anstrengend, unangepasst, wild, fordernd, unzufrieden zu reproduzieren. Es ist ein Begriff, der "die ganze Kraft und den ganzen Reichtum ihres besonderen Temperaments zum Ausdruck bringt". (S. 21)
Laut Kurcinka und Imlau ist jedes siebte bis zehnte Kind gefühlsstark, wobei es sich nicht um eine Anomalie oder Krankheit, sondern um eine besondere Ausprägung der Persönlichkeit, des Temperaments handelt, die durch bestimmte Merkmale charakterisiert wird. Es gibt starke Überschneidungen zu High-Need-Kindern und hochsensiblen Kindern, wobei Imlaus "Gefühlsstärke" laut ihrer Definition über Hochsensibilität hinaus geht.
Typische Eigenschaften gefühlsstarker Kinder sind:
- Sie erleben alle Gefühle sehr intensiv
- Sie sind extrem ausdauernd und hartnäckig
- Sie sind sehr empfindlich und leicht irritierbar
- Sie sind sehr reizoffen und nehmen alles wahr
- Sie brauchen Struktur und Routinen und können mit Abweichungen schlecht umgehen
- Sie haben ein hohes Energieniveau, sind aktiv und oft unruhig
- Sie kommen schlecht mit Veränderungen und Übergängen klar
- Sie sind oft kritisch, pessimistisch und unzufrieden
Die Eltern gefühlsstarker Kinder merken meist schon sehr früh, dass ihr Baby bzw. Kleinkind anders ist als andere, denn oft schläft es wenig, schreit schnell und viel, lässt sich schwer beruhigen, liegt nicht ruhig auf der Spielmatte, ist ein wählerischer Esser, hat ausgeprägte Wutanfälle, ist immer in Bewegung und selten mal ruhig und zufrieden. Je nach elterlicher Disposition und vielen anderen Faktoren wie vorhandener Unterstützung, Feedback und Regenerationsmöglichkeiten kommen Eltern unterschiedlich mit diesem herausfordernden Temperament klar, fühlen sich allein gelassen und unverstanden und fragen sich mal mehr, mal weniger, warum das Kind so ist, wie es ist. Imlau macht jedoch absolut deutlich, dass keiner dafür verantwortlich ist oder sogar "Schuld" daran trägt, sondern es sich um ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal handelt, das zwar nicht verändert, aber durchaus liebevoll begleitet werden kann, damit das Kind seine Besonderheiten nicht als Schwäche, sondern als Stärke, Bereicherung und Chance empfindet.
Sehr wichtig bei der Begleitung gefühlsstarker Kinder ist beispielsweise die Co-Regulation durch Bezugspersonen. Diese Kinder haben aufgrund ihrer Disposition eine nur schwach ausgeprägte Selbstregulation und fallen durch ihre besonders empfindliche Amygdala, die "Alarmanlage des Gehirns", schnell in eine Stress- und Überreaktion, werden von ihren Gefühlen überwältigt und können sich nicht selbst beruhigen. Hier ist die Unterstützung der Bezugspersonen unglaublich wichtig, denn nur durch immer wiederholte Beruhigung und Trost von außen finden diese Kinder in ihre innere Mitte zurück und können Fähigkeiten entwickeln, die sie später in die Lage versetzen, sich selbst aus Stress- und Krisensituationen herauszuholen. "Wir Eltern sollten es unbedingt als unsere Aufgabe verstehen, unser Kind mit seinen überbordenden Emotionen nicht alleine zu lassen, sondern gemeinsam mit ihm nach einem Weg zu suchen, mit seiner intensiven Gefühlswelt besser klarzukommen." (S. 85) Entscheidend sind Verständnis und Empathie, so dass man aus dem Kampfmodus aussteigen und in den Beziehungsmodus finden kann.
Die Rolle der Eltern
Nun ist das je nach Disposition der Eltern, die auf ein gefühlsstarkes Kind treffen, nicht ganz einfach, und Imlau schildert mehrere mögliche Konstellationen im Familienleben, die besondere Schwierigkeiten, aber auch besondere Chancen bieten. Diese Seiten (ab S. 96) empfand ich persönlich als besonders erleuchtend, denn je nach Kombination Elternteil - Kind entwickelt sich eine ganz unterschiedliche Dynamik, wie mit diesem Temperament umgegangen wird. Besonders explosiv ist die Konstellation, wenn ein gefühlsstarkes Elternteil auf ein gefühlsstarkes Kind trifft, und diese Kombination ist sehr wahrscheinlich, denn Gefühlsstärke wird vererbt. Imlau schildert hier einige hilfreiche Tipps und Methoden, denn in jeder dieser Konstellationen müssen nicht nur die Kinder, sondern vor allem auch die Eltern lernen, mit ihren eigenen Emotionen und denen des Kindes umzugehen, denn das Verhalten des gefühlsstarken Kindes kann alte Wunden triggern. Ein sehr bereicherndes Kapitel!
Das Buch stellt immer wieder klar, dass man an gefühlstarke Kinder nicht mit den Maßstäben, die für andere Kinder gelten, herangehen kann. Ein Kind schläft, wenn es müde ist, isst und trinkt, wenn es hungrig und durstig ist, ruht sich aus, wenn es erschöpft ist, beruhigt sich schnell, wenn man sich ihm zuwendet? Diese Maßstäbe gelten für gefühlsstarke Kinder nicht oder nur bedingt. Sie haben eine schwach ausgeprägte Selbstregulationsfähigkeit und eine niedrige Schwelle des Stressempfindens. Oftmals übertreten sie ihre eigenen Grenzen, ohne es zu merken, oder wir Eltern übertreten sie ungewollt, was wir meist erst durch die nachträgliche heftige Reaktion des Kindes merken. Wir sind dazu da, die Stressauslöser des Kindes zu erkennen und ihnen Strategien zum Umgang mit ihnen zu vermitteln.
Gefühlsstarke Kinder brauchen nicht nur Co-Regulation im emotionalen Bereich, sondern auch beim Schlafen, beim Essen, beim Körpergefühl, bei der Balance zwischen Aktion und Ruhe und profitieren von vorhersehbaren, festen Strukturen und Routinen. Gleichzeitig mögen sie keine Fremdbestimmung, sind sehr freiheitsliebend und oft auch rebellisch, haben ein starkes Gerechtigkeitsempfinden und einen großen Unabhängigkeitsdrang. Die Gratwanderung ist manchmal sehr schwierig und muss immer wieder neu austariert werden, Das alles erinnert sehr an die von Jesper Juul beschriebenen autonomen Kinder, die ich in mehreren Blogtexten vorgestellt habe. Sicherlich gibt es auch hier Überschneidungen, wie zu den Themen hochsensible und High-Need-Kinder.
Für die Co-Regulation von gefühlsstarken Kindern im Alltag gibt es viele praktische Tipps, Anregungen und Hilfestellungen im Buch, die man sich als Elternteil eines solchen Kindes jahrelang mühsam selbst erarbeitet hat. Dies so geballt schwarz auf weiß zu lesen, ist unglaublich bestätigend, und Nora Imlau schafft es durch ihre feinfühlige, empathische und gleichzeitig sachliche Art des Schreibens, dass man sich als Eltern nie schlecht fühlt, auch wenn man vielleicht mal nicht optimal reagiert, was ja völlig normal ist, besonders in schwierigen Persönlichkeitskonstellationen. Es gibt Tipps für die Babyzeit, für die Eingewöhnung in Betreuungseinrichtungen und für die Schulzeit, ebenso wie für das Familienleben mit einem gefühlsstarken Kind, z.B. das Umgehen mit Geschwistern, das Achten auf individuelle Energiequellen, unterschiedliche Erziehungsvorstellungen von Eltern und weiterem Kinderwunsch.
Und trotz aller Schwierigkeiten und Herausforderungen geht es auch immer wieder um das Potential dieser Kinder, um den Reichtum dieses Temperaments, um die Chance des Miteinander-Wachsens. Gefühlsstärke beinhaltet höchste Emotionen, sowohl negativ als auch positiv. Die Begeisterungsfähigkeit, Neugierde und Leidenschaft dieser Kinder, die Ausdauer und der Gerechtigkeitssinn, die Feinfühligkeit und Empathie können Früchte tragen, wenn "sie mit unserer Begleitung lernen, ihre starken Gefühle zu regulieren, ohne sie zu unterdrücken" (S. 295).
Fazit
Dieses Buch ist eine wunderbare Schatztruhe an Erkenntnissen und Hilfestellungen für den Umgang mit gefühlsstarken Kindern. Es bringt dieses Thema erstmals so umfassend auf den deutschen Buchmarkt und wird unzähligen Eltern dieser Kinder helfen, sich nicht mehr ganz so hilflos und allein zu fühlen. Und in vielen Eltern, die einstmals selbst gefühlsstarke Kinder waren, aber nicht adäquat begleitet wurden, schmerzhafte Erinnerungen und Emotionen wecken, die dazu beitragen können, sich zu reflektieren und vieles anders zu machen.
Als Mutter eines hochsensiblen, gefühlsstarken Kindes, das introvertiert, aber trotzdem explosiv, das fordernd und gleichzeitig so verletzlich ist, das sich unglaublich positiv entwickelt hat und trotzdem immer wieder Co-Regulation benötigt, fühle ich mich total abgeholt und aufgefangen von diesem großartigen Buch. Es öffnet die Augen, es bestätigt, es regt zum Erkennen und Nachdenken an, und vor allem, es entlastet. Es zeigt deutlich auf, dass man weder allein mit noch schuld an dem besonderen Temperament seines Kindes ist, sondern die Aufgabe bekommen hat, dieses Kind in all seinen Herausforderungen, aber auch seinen Möglichkeiten zu sehen und angemessen zu begleiten, damit es sein Potential entwickeln kann.
Das Buch berührte mich schon auf den ersten Seiten tief und ließ mich nicht mehr los. Die Schreibweise von Nora Imlau ist so warmherzig und gleichzeitig sachlich, so alltagsbezogen und unterstützend, dass man sich beim Lesen wie in einer geborgenen Glocke fühlt. Man spürt, dass ihre eigenen Erfahrungen mit hineinfließen und es ein Herzensthema für sie ist, und trotzdem gelingt es ihr, das Thema aus einer übergeordneten Perspektive zu beschreiben. Ein wirklich wundervolles Werk und eine Pionierarbeit zu diesem Thema, eine Bereicherung und Erleuchtung für Eltern gefühlsstarker Kinder und alle anderen natürlich auch. Ich weiß noch, wie ich auf dieses Buch stieß, die Hashtags des Verlags las, Nora Imlau auf Twitter anschrieb und dann wusste, das passt! Ich bin unglaublich dankbar, dass es das Buch gibt, denn auch wenn es für unsere allerschwierigsten Jahre zu spät kam, wird es in Zukunft unzähligen Eltern helfen.
Ich wünsche dem Buch viele Leser, damit das Verständnis für das Thema, für angeborene Temperamente und für Eltern untereinander wächst. Gefühlsstarke Kinder sind ein Geschenk - ein herausforderndes und ganz besonderes Geschenk. Dieses Buch trägt dazu bei, dass wir Eltern es auch als solches empfinden.
Klare Leseempfehlung aus tiefstem Herzen!
Die Eckdaten:
Nora Imlau: So viel Freude, so viel Wut. Gefühlsstarke Kinder verstehen und begleiten*, Kösel Verlag, Mai 2018, 320 Seiten, ISBN 978-3466310951, 20,- €
Hier könnt ihr ein Video sehen, in dem Nora Imlau über ihr Buch (und über ihr eigenes gefühlsstarkes Kind) spricht:
https://www.youtube.com/watch?v=LEL86zHNW-g
Vielen Dank an den Kösel Verlag für das Rezensionsexemplar!
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Danke für die Rezension!
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