Mittwoch, 13. Januar 2016

Die fehlende Familienseite

Letztens unterhielt ich mich mit dem Großen über seine Großeltern väterlicherseits. Über den Opa, der schon sehr alt ist und bald sterben wird. Der dann dort begraben wird, wo die Oma, seine Frau, schon liegt. Dann können wir die beiden dort im Wald (in einem Ruheforst) besuchen. Da, wo der große Ameisenhaufen ist und die roten Waldameisen über die Füße laufen, so dass man nie lange stehenbleiben kann. Ein Mal im Jahr, wenn wir im Urlaub an der Ostsee sind, könnten wir den Gedenkbaum im Ruheforst aufsuchen. Dieser Opa ist 90 Jahre alt, lebt im Pflegeheim und ist dement. Im Leben meiner Kinder ist er überhaupt nicht präsent. Im letzten Jahr hat der Große ihn zweimal gesehen und weiß zumindest, wer er ist. Die Kleine sah ihn einmal und hatte verständlicherweise Angst vor ihm. Für sie ist er völlig fern.

Es fühlt sich komisch und traurig an, dass unsere Kinder von Anfang an mit nur einer aktiven Großelternseite aufwachsen. Meine Schwiegermutter starb überraschend und innerhalb weniger Wochen, als unser Großer gerade mal 5 Monate alt war. Mit einem knappen halben Jahr war er auf seiner ersten und bisher einzigen Beerdigung. Zwei Mal hatte die Oma ihn seit seiner Geburt noch gesehen, sie, die all die Jahre so mitgefiebert hat. Das tut mir unendlich leid. Sicherlich hätten wir diametral entgegengesetzte Vorstellungen vom Umgang mit Kindern, aber die habe ich teilweise auch mit Menschen meiner Generation. Sicherlich hätten wir auf vieles, was sie in ihrem gewohnt unerbittlichen Ton kundgetan hätte, gekränkt reagiert, hätten uns geärgert und die Kinder nicht nur aufgrund ihres Alters nicht mit ihnen allein gelassen. Das Verhältnis war nie besonders gut und es gab viele Konfliktpunkte. Aber ich denke trotzdem, dass es schön und wichtig für meine Kinder gewesen wäre, wenn sie auch diese Seite der Familie kennengelernt hätten. Wenn sie eine Auswahl zwischen der Sympathie für den einen oder den anderen Opa gehabt hätten. Wenn diese Oma zu ihnen gesagt hätte: "Dein Papa war als Kind genauso." Wenn sie eine andere Lebenswirklichkeit von Großeltern als die meiner Eltern kennenlernen könnten. Wenn sie ihren Papa in seinem Familienkontext erlebt hätten. Als Sohn seiner Eltern. Das fehlt alles.

Ich weiß, dass ich des öfteren zusammengezuckt wäre und die Stirn gerunzelt hätte, so wie ich es auch bei meinen eigenen Eltern mache. Meine Schwiegereltern waren sehr eigen und in ihrer Themenauswahl recht eindimensional. Bei meinem Schwiegervater gab es nur den Krieg und sein Hobby und meine Schwiegermutter war ähnlich, wenn auch interessierter. Zur Lebenswelt kleiner Kinder hätten da nur wenige Berührungspunkte existiert. Aber es wäre interessant gewesen, ob eine besondere Chemie zwischen einem der Großeltern und einem der Kinder existiert hätte, so wie zwischen dem Großen und meinem Vater, die ein Herz und eine Seele sind, obwohl sie sich nur selten sehen. Es wäre besonders für mich spannend gewesen, mehr Dinge über die Kindheit meines Mannes zu erfahren, um vielleicht die Seiten an den Kindern, die ich nicht einordnen kann, besser zu verstehen. Vielleicht könnten die Kinder ihrerseits auch ihren Papa besser verstehen. Und nicht zuletzt wäre es für ihn schön gewesen, seine Eltern mit seinen beiden Kindern zusammen zu sehen.

Natürlich hätten sie aufgrund ihres Alters und ihrer Gebrechlichkeit keine große Rolle spielen können. Aber es hätte immerhin mehr gegeben als jetzt. Es gibt ein paar Erinnerungsstücke an meine Schwiegermutter, Fotos und einen einzigen Film mit dem Großen als Baby und diesen Großeltern. Das Grab der Oma. Und das Pflegeheimzimmer meines Schwiegervaters. Nichts, was für Kinder greif- und fassbar wäre. Zwar kennen sie es nicht anders und wachsen damit auf. Aber es bleibt das Gefühl, dass etwas fehlt. Da mein Mann keine Geschwister hat, fehlt sozusagen dieser komplette Familienstrang. Es fehlt die Seite, nach der meine Kinder mit Nachnamen heißen. Eine Familiengeschichte, eine Familientradition, ein Familiencharakter. Das ist schade und traurig, aber nicht zu ändern.

Meine Eltern haben dadurch eine privilegierte Stellung inne. Sie sind DIE Oma bzw. DER Opa, ohne Konkurrenz, ohne Druck, sich um die Kinder bemühen zu müssen. Alles, was sie tun und sind, wird für die Kinder das Nonplusultra eines Großelterndaseins sein, weil sie nichts anderes kennen. Sie werden denken, alle Großeltern haben eine ähnlich modern und picobello eingerichtete Wohnung wie meine Eltern. Sie werden denken, alle Großeltern machen Weltreisen. Oder Großeltern fahren Auto, spielen Fangen und puzzeln stundenlang. Bei meinen Schwiegereltern hätte all das nicht zugetroffen, und ich hätte es wichtig gefunden, wenn meine Kinder auch diese Aspekte der Großelternwelt kennengelernt hätten. Es ist nicht zu ändern, aber das Gefühl, dass eine Familienseite fehlt, bleibt.

Nachtrag vom 15.02.2016:
Am Sonntag, 14.02.2016 abends ist der Opa, der Vater meines Mannes, an den Folgen einer Lungenentzündung, aber ruhig und friedlich im Pflegeheim verstorben. Mein Mann und der Große hatten ihn am Freitag und Samstag noch besucht und sich bewusst verabschiedet. Nun wird der Große mit seinen knapp 5 Jahren bald seine zweite Beerdigung erleben.

10 Kommentare:

  1. Was du gar nicht erwähnst: wie geht es deinem Mann damit? Schließlich sind es seine Eltern, die gestorben sind und ihm fehlen.
    Meine Eltern sind auch bereits gestorben und der Vater meines Mannes auch. Beide haben wir keine Geschwister. Unsere Tochter ist jetzt 4 Monate alt. Insofern verstehe ich dich gut und habe mir auch oft Gedanken darüber gemacht.

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    1. Der Opa lebt ja noch. Das Verhältnis war immer schwierig und nicht besonders eng. Insofern fehlen sie ihm selbst eher weniger, glaube ich. Aber für die Kinder fehlen sie halt trotzdem als die andere Seite.
      Dann habt ihr nur eine Oma? Komisches Gefühl, oder? Hoffentlich ist das Verhältnis wenigstens eng und sie sieht ihre Enkelin oft...
      Liebe Grüße!

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  2. Bewegender Beitrag, danke dafür! Meine Kinder haben zwar noch die "deutschen" Grosseltern (meine Eltern) und den italienischen Opa, doch die Ersteren sehen wir leider nur ein paar Mal um Jahr, und aufgrund familiärer Streitigkeiten ist der Opa italienischerseits auch nicht in unserem Alltag präsent. Ich kann Dir das Gefühl, dass etwas fehlt, vor allem für die Kinder, dadurch gut nachempfinden. Und übrigens: ich verfasse auch gerade einen Beitrag zur "älteren Generation ". War wohl wieder mal Gedankenübertragung! Viele Grüße! Claudia

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    1. Oh, das ist ja auch schade! Meine eigenen Eltern sind nicht besonders präsent, alle paar Monate ist für Kinder nicht viel. Aber die andere Seite ist eben gar nicht vorhanden. Das Gute ist: man braucht sich nicht darüber zu ärgern, dass sie sich rar machen, hat keine Erwartungen;)
      Liebe Grüße!

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  3. Interessanter Gedankengang. Ja, sowas ist komisch. Mein Dreijähriger beschäftigt sich gerade mit dem Tod (warum die Kinder immer auf sowas kommen) und ich sehe die Notwendigkeit, die Familiengeschichte zumindest grob auseinander zu legen: dass seine Oma (und jetzige Lebensgefährtin meines Vaters) nicht meine Mutter ist, dass es noch einen Bruder gab, der viel zu früh (mit knapp 18) verstorben ist usw. Es fehlt halt irgendwas. Und man kann es nicht mit Worten erklären. Mein Vater hat sich stark nach der neuen Frau in seinem Leben gerichtet - sehr zum positiven. Es ist ihm zu gönnen. Aber das System, in dem ich aufgewachsen bin, was mich geprägt hat, war ein anderes. Dominiert von meiner Mutter (und ihrer Mutter) und halt ganz anders. So lernt er nur die Aspekte kennen, die sich bei mir und meinem Vater eingebrannt haben. Da wir uns aber von vielen Dingen sehr abgewendet haben, ist es halt nicht dasselbe. Schwierig wird´s nur, wenn solche Dinge einen dabei behindern, sein "Erbe" zu verstehen. Das ist vielleicht für die Kinder noch nicht so Thema, aber auch ein Thema für einen selbst. Je länger ein Mensch tot ist, umso mehr verwischen sich seine Spuren mit der eigenen Interpretation dieser Spuren. Ein seltsames Gefühl.

    Liebe Grüße,

    Orinoco

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    1. Stimmt, das sind noch andere Aspekte, die bei uns zwar keine Rolle spielen, aber das Ganze noch verkomplizieren können. Ich kann das total nachvollziehen, was Du schilderst, würde mir genauso gehen. Komisch, dass damit auch ein Teil der eigenen Geschichte weg ist. Danke für die Anregungen.
      Liebe Grüße!

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  4. Ich fühle mit dir, denn auch meine Kinder werden groß nur mit einen teil der großeltern, die sie leider so selten sehen das sie keine richtigen Bezugspersonen sind.
    Meine Schwiegermutter haben beide Kinder nicht mitbekommen & kurz vor der Geburt vom kleinen ist plötzlich & unerwartet mein Schwiegervater aus unseren leben gerissen wurden. Die große hatte ein tolles Verhältnis zu ihn, obwohl er auch nicht so der Mensch war der mit ihr gespielt, vorgelesen usw hat. Trotzdem kam so neulich von der Schule mit einen Zettel wo drauf stand "herzenswusch:ich würde gern meinen opa wiedersehen", was uns als Eltern auch das Herz zerreißt & man nicht weiß was man da machen oder zu sagen soll.

    Lg Nicky

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    1. Genau das finde ich auch schade. Die eine Seite fehlt, und die andere Seite ist nur selten präsent, obwohl es auch anders ginge. Der Herzenswunsch ist ja rührend! Vom Großen kommt manchmal auch: "Ich möchte wieder mal die Oma besuchen" (im Ruheforst), obwohl er sie nie bewusst kennengelernt hat.
      Liebe Grüße!

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  5. Ein trauriges Thema was Du aber irgendwie schön beschrieben hast. Bei meiner großen Tochter fehlt auch die eine Blutsverwandte Seite, der "Opa" starb als sie ein paar Monate alt war und die "Oma" tat nichts um den Kontakt zu halten, ähnlich wie ihr Sohn.
    Aber durch meinen neuen Partner bekam meine Große auch neue Großeltern.
    Ich selber hatte immer nur Omas und meine Opas kenne ich gar nicht. Aber gefehlt haben sie mir nicht, denn meine Omas füllten das aus. Nur weil etwas nicht da ist, muss es nicht automatisch komplett fehlen.
    Gute Nacht
    Katharina

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    1. Das ist traurig, wenn Du schreibst, dass die leibliche Oma Deiner Tochter keinen Kontakt hält (und der Papa auch nicht!). Tut mir sehr leid für Deine Große. Ich verstehe sowas nicht.
      Bei uns ist es ja so, dass meine Seite nicht besonders aktiv ist, wir sehen uns ein paar Mal im Jahr, die restliche Familie noch seltener und das war's. Ich finde es zu wenig für die Kinder, aber man kann die Großeltern nicht ändern. Deshalb ist es besonders traurig, dass eine andere Seite fehlt, obwohl sie alt und nicht aktiv gewesen wäre.
      Liebe Grüße!

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