Montag, 27. Juli 2015

Autonome Kinder Teil 3 - Interview mit Jesper Juul

In meinen beiden Beiträgen Autonome Kinder und Autonome Kinder Teil 2 habe ich das Phänomen der autonomen Kinder anhand von Ausschnitten aus Büchern von Jesper Juul sowie diversen Webseiten umrissen. Er erwähnt das Thema mehrfach am Rande und meine Zusammenfassungen sind auf reges Interesse gestoßen. Da es bisher an weiteren Erkenntnissen mangelt, habe ich mich entschlossen, ein Interview mit Jesper Juul zu führen und ihm die Fragen zu stellen, die mich und viele andere Leser dieser Texte interessierten. Die Grundlagen zum Thema autonome Kinder können in meinen beiden erwähnten Texten nachgelesen werden, ebenso die Bücher, in denen Juul es anschneidet.

Interview mit Jesper Juul vom 20. Juli 2015

Herr Juul, in einigen Ihrer Bücher schneiden Sie das Phänomen der autonomen Kinder an. Das sind besonders unabhängige, kompromisslose, nicht manipulierbare Kinder, die man nicht nach gängigen Maßstäben erziehen kann. Ich stelle das Thema auf meinem Blog vor und habe große Resonanz dazu bekommen. Es scheint viele solcher Kinder zu geben, auch wenn das Thema nicht sehr bekannt ist. Wie sind Sie selbst auf das Thema aufmerksam geworden?

Juul:
Ich entdeckte diese Kinder vor vielen Jahren, als ich in einem Institut für „Verhaltensauffällige Kinder“ (9-16) arbeitete. Sie werden oft als „jenseits pädagogischer Erreichbarkeit“ beschrieben und ich fand heraus, dass sie sehr wohl erreicht werden können, wenn man ihre Autonomie respektierte. Wenn ihre Eltern dazu auch in der Lage waren, waren alle zufrieden und manchmal waren wir auch erfolgreich darin, ihre Lehrer oder Pflegeeltern anzuleiten.

Warum gibt es bisher so wenig Forschung dazu? Werden Sie sich darüber zukünftig mal ausführlicher äußern?

Juul:
Die meisten Untersuchungen arbeiten nach dem alten Paradigma, das sich nicht daran orientiert, wie Kinder ihre eigenen Lebenswirklichkeiten und Beziehungen wahrnehmen, sondern sich auf die Schwierigkeiten konzentriert, die Erwachsene haben, wenn sie versuchen, mit ihnen in Beziehung zu treten oder sie zu erziehen. Im Allgemeinen wird das Verhalten von Eltern und Pädagogen nicht in Frage gestellt. Stattdessen werden Erziehungsmethoden erdacht.

Kennen Sie persönlich autonome Kinder? Wenn ja, wie kommen Sie mit ihnen klar, wie begegnen Sie ihnen, was machen Sie, wenn Sie nicht mehr weiter wissen?

Juul:
Ich kenne Hunderte, darunter meinen Enkel, der jetzt 10 Jahre alt ist. Mein Glück ist, dass ich mich nie darauf fokussiert habe, mit Kindern in einer kindangepassten Weise umzugehen. Deshalb bin ich ihnen einfach wie Erwachsenen begegnet. Als Ergebnis waren diese Kinder nie „schwierig“, wenn sie mit mir allein waren. Es dauerte allerdings fast 30 Jahre, bis ich mir dessen bewusst wurde. Deshalb rate ich oft Erwachsenen, die „alles versucht“ haben, einfach die Wahrheit auszudrücken, zum Beispiel: „Ich weiß jetzt einfach nicht mehr weiter mit Dir, kannst Du mir helfen?“


Viele Eltern berichten, dass die Autonomiephase mit solchen Kindern eine ungeheuerliche Herausforderung ist. Wie kommen beide Seiten unbeschadet hindurch?

Juul:
Für wahre autonome Kinder ist es nicht nur eine Phase, sondern eine lebenslange Existenzweise. Es stimmt, dass alle Kinder eine Phase wie diese durchmachen – im Alter von ca. 2 Jahren (was die Amerikaner „The Terrible Two“ nennen), und es ist auch wahr, dass viel zu viele Eltern sich in dieser Phase destruktiv verhalten, weil sie das natürliche und gesunde Verhalten ihrer Kinder als „Trotz“ interpretieren.

Der beste Weg, um schädliches Verhalten gegenüber beiden Arten von Kindern zu vermeiden, ist, ihr Bedürfnis nach Autonomie anzuerkennen und ehrlich und offen zuzugeben, welche Schwierigkeiten die Eltern haben. Es schadet einem Kind nicht, wenn seine Eltern den adäquaten Umgang mit ihm schwierig finden, so lange sie dem Kind nicht die Schuld dafür geben – d.h. „Ich finde es schwierig/ unmöglich, mit Dir angemessen umzugehen“ anstatt „Du bist unmöglich…“. Letzteres gibt dem Kind die Schuld, anstatt dass der Erwachsene die Verantwortung für seine erfolglose Anleitung übernimmt.

Haben Sie schon einmal ein autonomes Kind über viele Jahre hinweg begleitet und gesehen, wie es sich weiterentwickelt? Haben Sie spezielle Tipps für die Schulzeit und die Pubertät?

Juul:
Ja, viele, und sie werden oft sehr erfolgreich. Viele von ihnen müssen einen unbequemen Weg gehen, wenn sie Liebesbeziehungen eingehen, weil ihre Partner ihre Autonomie als Mangel an Liebe interpretieren.

Der Tipp ist immer derselbe: wahrhaftig zu sein und die Autonomie der anderen Person zu respektieren. Auf diese Weise können wir eine Menge mit und von diesen Kindern lernen, und je bereitwilliger wir uns auf diese Regel einlassen, umso erfolgreicher werden wir als Eltern und Lehrer sein.

Viele Rückmeldungen zu meinen Texten handeln davon, dass die Eltern sich rückblickend auch als autonome Kinder erkennen, wenn auch durch Erziehung gedeckelt. Was meinen Sie dazu, ist diese Wesensausprägung vererbt?

Juul:
Ich habe die gleiche Erfahrung, aber ich weiß nicht, ob die Veranlagung vererbt wird.

Was viele Eltern als schwierig im Umgang mit einem autonomen Kind empfinden, ist die Zurückweisung der elterlichen Liebe. Haben Sie dafür eine Strategie oder einen Trostgedanken, damit man das nicht zu persönlich nimmt?

Juul:
Es ist wichtig, dass diese Eltern realisieren, dass ihr Kind nicht die Liebe zurückweist, sondern lediglich die Art und Weise, wie sie sie ausdrücken. Was von ihren Geschwistern höchst geschätzt werden mag, lehnt das autonome Kind ab. Das ist ähnlich wie bei erwachsenen Partnern: die Art und Weise, wie wir unseren zweiten Partner zu lieben lernen müssen, ist anders als beim ersten.

Wie stehen Sie zu dem Gedanken, es handle sich bei autonomen Kindern eigentlich um ADHS-Kinder?

Juul:
Das ist kompletter Unsinn. Autonome Kinder haben kein Aufmerksamkeitsdefizit. Es ist aber dennoch interessant, dass ADHS-Kinder auch positiv reagieren, wenn sie würdevoll behandelt werden.

Herr Juul, ich danke Ihnen sehr für die Beantwortung der Fragen und hoffe, dass die Forschung zu diesem Thema voranschreitet.

Ich möchte weiterhin auf meinem Blog Erfahrungsberichte über autonome Kinder sammeln und rufe ausdrücklich dazu auf, diese hier zu teilen. Sollte ich auf neue Forschungsergebnisse stoßen, werde ich diese ebenfalls hier vorstellen. Wer die auf Englisch gegebenen Original-Antworten nachlesen möchte, kann sich gern bei mir melden. Mit diesem Interview habe ich mir übrigens meinen eigenen, in diesem Text vom April 2015 geäußerten Wunsch erfüllt.

Ich danke Herrn Jacob Hochrein vom Beltz Verlag für die Vermittlung des Interviews und die freundliche Betreuung. Gern verweise ich in diesem Zusammenhang auf ein neu aufgelegtes Buch von Jesper Juul im Beltz Verlag: Das Familienhaus: Wie Große und Kleine gut miteinander auskommen.

Hier die Vorgängertexte:
Autonome Kinder
Autonome Kinder Teil 2

Hier der Verweis auf Teil 4 zur Pubertät:
Autonome Kinder Teil 4 - Pubertät

Und hier ein Link zum Erfahrungsaustausch in einem Babyforum:
https://www.rund-ums-baby.de/erziehung_elternforum/Autonome-Kinder-suche-Erfahrungsaustausch_81648.htm

Wenn euch meine Artikel über "Autonome Kinder" weitergeholfen haben, würde ich mich sehr über ein kleines Dankeschön freuen. Über diesen Button könnt ihr mir einen Kaffee "spendieren":

Dienstag, 21. Juli 2015

Im Musikgarten mit der Kleinen

Am Montag war die letzte Stunde des Musikgartenkurses, den ich mit der Kleinen besuchte. Eigentlich findet er nächste Woche noch einmal statt, aber da sind wir im Urlaub. Es war der erste Kurs, den ich mit ihr überhaupt und allein besuchte, und es hat wirklich Spaß gemacht. Wie erwartet, hat sie die Lieder, Kniereiter, Fingerspiele und Tänze wahnsinnig schnell verinnerlicht. Schon nach dem ersten Mal wollte sie zuhause "Schotterfahren mit dem alten Schotterwagen", ein Kniereiter, der auch dem Großen bis heute viel Spaß bereitet. In der ersten Stunde beobachtete sie viel und versuchte, ein paar Bewegungen mitzumachen. In der zweiten Stunde traute sie sich schon mehr zu und tanzte aktiv mit. Beim letzten Mal war sie wieder etwas zurückhaltender, man merkte aber, dass sie die Melodien und Bewegungen kannte und reproduzieren konnte.

Ich war ja im Vorfeld sehr gespannt, wie sie sich im Vergleich zum Großen verhalten würde. Dieser war immer in Kursen mit fremden Kindern und Erwachsenen sehr scheu und anhänglich gewesen, sowohl zusammen mit meinem Mann als auch mit mir. Er klebte förmlich an uns, hat so gut wie gar nicht mitgemacht und beim Tanzen wollte er auch mit über 3 Jahren auf meinen Arm. Er hat auch zuhause nichts von dem Gelernten reproduziert, man hatte immer den Eindruck, es versickert irgendwo. Er saß immer nur bei uns und beobachtete intensiv. Wenn es beim Tanzen zu wuselig war, war er selbst auf dem Arm ängstlich, zu große Nähe zu anderen Teilnehmern fand er extrem unangenehm. Irgendwann haben wir es akzeptiert, dass es so war. Er schloss sich aber dankenswerterweise auch nie den anderen Kindern an, die unruhig waren, umherliefen, störten, hineinplatzten etc. Nicht auf unsere Veranlassung hin, sondern er verhielt sich von allein so ruhig.

Die Kleine war nicht ganz so offen, neugierig und aktiv, wie ich sie von zuhause kenne und es erwartet hatte. Sie saß auch meist bei mir und beobachtete intensiv. Allerdings merkte ich deutlich, dass sie sich schneller an die unvertraute Situation gewöhnte und die fremde Umgebung sie nicht so überforderte wie den Großen. Sie konnte sich sofort auf die Gegebenheiten einlassen, wusste, wo Ein- und Ausgang und die Toilette waren und verstand die Abläufe schnell. Das Tanzen gestaltete sich unterschiedlich, mal tanzte sie selbst, mal wollte sie auf den Arm. Das war völlig normal und in Ordnung. Sie war recht scheu, wenn es um die persönliche Begrüßung ging und darum, im Mittelpunkt zu stehen und nach vorne zu kommen. Sie hatte aber Spaß daran, die Instrumente auszuprobieren, lachte bei den Kniereitern und reagierte intensiv auf die Musik. Auch sie ließ sich wie der Große nicht von der Unruhe der meisten anderen Kinder anstecken, wälzte sich weder am Boden noch drängelte sie sich bei der Vergabe der Instrumente vor. Die Musikgartenlehrerin, die mich ja nun mit beiden Kindern erlebt hat, muss wohl gedacht haben, was ich für wohlerzogene Kinder habe, hihi. Ich selber war als Kind genauso und hätte mich exakt so verhalten wie meine Kinder in der Situation. Im Vergleich zu den meisten anderen gleichaltrigen Kindern waren meine beiden in den Kursen viel weniger kindlich-chaotisch als die anderen. Auch dies war bei mir genauso.

Auch wenn der Musikgartenkurs jetzt leider schon wieder vorbei ist, war es eine spannende und lohnende Erfahrung, die mir einerseits wieder gezeigt hat, in welchen Aspekten meine Kinder unterschiedlich sind, andererseits aber auch vor Augen führte, dass die Kleine doch nicht überall die Draufgängerin wie zuhause ist. In der Kita wird sie ja auch als eines der ruhigsten Kinder ihrer Gruppe wahrgenommen, wenn auch mit enormem eigenen Willen. Schön, dass ich sie auch mal so zurückhaltend erleben durfte. Und wunderbar, ihren Spaß an Musik, Tanz, Instrumenten, Fingerspielen und Kniereitern zu sehen und zu fördern. Vielleicht geht ihr Talent doch eher in die Tanzrichtung, sie bewegt sich sehr gerne und versiert zu Musik und hat ein ausgeprägtes Rhythmusgefühl. Wir werden sehen. Es gibt bei uns in der Nähe auch Kindertanzkurse, vielleicht werden wir sie dort mal probehalber anmelden. Dann wird allerdings wieder das Betreuungsproblem mit dem Großen akut. Und: mittanzen kann ich da eher weniger. Das ist nicht so mein Ding;)

Freitag, 17. Juli 2015

Der Doppelgänger meines Sohnes

Mein Großer hat seit drei Jahren einen Doppelgänger in der Kita. Einen Jungen, der immer freundlich und gut gelaunt ist, hilfsbereit und kooperativ, sich selbst beschäftigt und ruhig spielt, beliebt bei anderen Kindern und Erziehern ist, fürsorglich und empathisch für andere Kinder sorgt, keine Schimpfwörter oder Aggressionen verbreitet, der Gefühle angemessen zeigt, sich schnell trösten lässt, problemlos aufräumt, beim Essen sitzenbleibt und Ruhezeiten einhält, der mitdenkt, selbstständig und verantwortungsbewusst ist. Einen Jungen, den seine Erzieherin als Vorzeige-Kindergartenkind beschreibt und sein Kinderyoga-Lehrer in der Kita als fast schon perfektes Schulkind (Schulstart ist 2017!). Der bei Ausflügen und Fahrten immer in der vordersten Reihe positioniert wird, weil auf ihn Verlass ist, der nicht rumhampelt, ausbüxt oder sonstige kindliche Einfälle auslebt. Der sich nach dem Toilettengang ohne Aufforderung die Hände wäscht und sehr eigenverantwortlich ist. Der auf seiner ersten Kitafahrt so herzhaft gelacht hat, wie ihn seine Erzieherin noch nie hat lachen hören. Der freiwillig erzählt, auf Fragen reagiert und andere aussprechen lässt. Der ein völlig normales Kind ist, ohne Auffälligkeiten, Probleme oder Schwachstellen. Ein toller Doppelgänger!

Seine Eltern sitzen in jedem Entwicklungsgespräch (kürzlich zum dritten Mal*) und geben ab und zu verzweifelt-belustigte Laute von sich. Erzählen davon, wie sich der Junge zuhause verhält. Was für Schwierigkeiten sie manchmal mit ihm haben. Wie oft sie an sich zweifeln und meinen, irgendwas falsch zu machen. Seine Erzieherin kennt das schon. Sie versteht es auch, hatte sie doch selbst genau so ein Kind. Sie sagt, die Eltern des Jungen würden das alles wunderbar mit ihm machen und dass man deutlich merkt, dass sie sich intensiv mit ihm beschäftigen. Sie sagt, wären alle Kinder so wie er, hätte sie als Erzieherin nichts mehr zu tun. Andere verstehen es weniger. Wer den Jungen nur in der äußeren Welt erlebt, denkt, die Eltern übertreiben. Und alle sagen immer: "Seid doch froh, dass es so ist und nicht umgekehrt!". Natürlich sind sie auch sehr froh und erleichtert darüber. Aber die Eltern würden auch gern ein Häppchen von dem fröhlichen Doppelgänger-Jungen abhaben. Kümmern sie sich doch die meiste Zeit sehr intensiv um ihn und versuchen immer, Verständnis aufzubringen. Aber der Junge schafft es oft nicht, zuhause seine vielen tollen Seiten zu zeigen. Warum nicht? Sind die Eltern schon zu festgefahren, begegnen sie ihm mit einer voreingenommenen, negativen Attitüde? Das mag manchmal der Fall sein, wenn man schon morgens mit schlechter Laune begrüßt wird. Aber gegenüber seiner Schwester, die ihn vergöttert, ist der Junge auch oft unwirsch, grantig, rücksichtslos, egoistisch. Der Doppelgänger in der Kita dagegen kümmert sich liebe- und verantwortungsvoll um sie, wenn die Eltern nicht dabei sind.

Die Erzieherin sieht dem Jungen an, dass es oft in seinem Kopf rattert und er überlegt, wie er Situationen in der Kita bewältigen kann. Sie bemerkt, dass er sicherlich vieles unterdrückt und sich stark anpasst. Sie sieht auch, dass er sehr empfindsam ist und ihm bei Konflikten schnell Tränchen in die Augen steigen. Aber sie schafft es immer, ihn aufzufangen und ihm positiv zu begegnen. Das ist auch nicht schwierig, wenn der Doppelgänger gerade sichtbar ist. Dann sind auch die Eltern überglücklich und kommen wunderbar mit dem Jungen zurecht. Leider ist das zuhause nur selten der Fall. Es ist sicherlich in Ordnung, dass sich der Junge zuhause, wo er sein Auffangnetz hat, anders verhält als draußen. Das ist einerseits ein gutes Zeichen. Andererseits müssen auch Kinder lernen, dass sie nicht all ihren Frust zuhause abladen können und die Eltern auch Gefühle haben. Dem Jungen fehlt dieses Gespür noch. Dass der Doppelgänger existiert, zeigt aber, dass Fähigkeiten da sind, die gefördert werden sollten. Im Interesse der Eltern und des Jungen. Denn wenn zuhause alle Familienmitglieder freundlich und rücksichtsvoll miteinander umgehen, ist es doch gleich viel schöner.

* Entwicklungsgespräch über den Großen am 13. Juli 2015.

Sonntag, 12. Juli 2015

Über das Spielverhalten meiner Kinder

Das Spielverhalten unserer Kinder, besonders des Großen, treibt uns regelmäßig in den Wahnsinn. Ich muss wirklich sagen, dass sie sich so gut wie nie allein beschäftigen. Ob zuhause, im Garten oder anderswo: überall sind viele Beschäftigungsmöglichkeiten vorhanden, die aber kaum bzw. nicht selbstständig genutzt werden. Immer wird ein Anstoß benötigt, immer wird Beschäftigung eingefordert und gejammert, wenn wir verlangen, mal allein zu spielen. Obwohl zumindest mein Mann ganz gern mit den Kindern spielt, ist das generell wahnsinnig anstrengend und kräftezehrend, vor allem an Tagen, wo es uns selbst nicht gut geht oder wir wirklich viel Anderes zu tun haben. Es ist eben leider auch nicht so, dass eine Anregung und ein Vorspielen ausreichen, damit die Kinder sich danach selbst weiter mit der Sache beschäftigen.

Besonders der Große hat keinerlei eigene Spielideen. Schon als er ein Baby war, fiel mir auf, dass er sich überhaupt nicht für Spielsachen interessierte und nichts von selbst in die Hand nahm. Er probierte nichts aus und hatte keinerlei Ideen, was er mit Dingen anstellen könnte. Bis zu seinem Kitastart mit 13 Monaten war es unglaublich zäh, öde und anstrengend, sich den ganzen Tag mit ihm zu beschäftigen. Man musste ihm wirklich rund um die Uhr etwas vorspielen. Er schaute zu, versuchte aber nichts selbst. Ich habe hundertmal am Tag den gleichen Turm aus Bechern gebaut, ihm vorgerasselt, ihm Autos zugeschoben und alles Mögliche ausprobiert, damit er anbeißt. Meistens vergeblich. Er hat nichts aufgegriffen, nachgeahmt oder umgewandelt. Ich bin fast wahnsinnig geworden. Auch draußen, auf dem Spielplatz, im Kinderbauernhof oder Kindercafè, hat er keine Initative ergriffen. Das wurde selbst bei wiederholten Besuchen nicht besser.

Damals dachten wir noch, das würde schon kommen, je älter er wird und mehr ausprobiert sowie sich etwas von anderen Kindern abschaut. Aber das war ein Trugschluss. Es gibt andere Kinder in unserem Bekanntenkreis, die sich über Stunden (was wir ja gar nicht erwarten) wunderbar selbst beschäftigen können und die ab und zu bei uns zu Besuch sind. Diesen Kindern beim Spielen zuzuschauen, ist für uns jedesmal sehr aufschlussreich und gleichzeitig frustrierend. Da wird vor Ideen gesprüht, werden Rollenspiele gemacht und Alltagsszenen nachgespielt. Wir hoffen dann immer, dass ein bisschen was davon auf den Großen abfärbt. Meist schaut er wie paralysiert zu und steigt irgendwann ein bisschen ins Spiel ein. Sobald die Anregung aber wieder wegfällt, ist alles beim Alten. Er vergisst auch tatsächlich immer wieder, welche Spielsachen er eigentlich hat und ist jedesmal überrascht, wenn er ein altes Auto oder Spiel neu entdeckt. Dazu muss man sagen, dass bei uns fast alle Spielsachen offen und sichtbar in Regalen oder auf dem Boden im Kinderzimmer stehen oder liegen, also jederzeit greifbar sind. Das, was in Schubläden oder Kisten verstaut ist, er also nicht sieht, gerät sofort in Vergessenheit.

Wenn er mal allein "spielt", dann meist nur für uns nicht nachvollziehbare Dinge wie Sachen irgendwo anbinden, Knöpfe sortieren, Spielzeugkisten wahllos ausschütten oder andere, immer wiederkehrende Tätigkeiten ohne Variation. Er macht überhaupt gar keine Rollen- oder Fantasiespiele allein, spricht kaum beim Spielen und hat nicht schon während des Spiels die nächste Idee, wie ich es bei anderen Kindern beobachte. Selbst Spielsachen, die ihn eigentlich interessieren, greift er sich nicht von selbst. Sein "Spielverhalten" unterscheidet sich deutlich von dem anderer Kinder und hat schon teilweise autistische Züge. Es fehlt aber völlig das für Autisten typische lange und vertiefte Allein-"Spielen". Auch in der Kita beobachtet er eher oder hängt sich an das Spiel anderer Kinder ran, lässt sich aber von aktiven, kreativen Kindern durchaus begeistern und ahmt dann in dem Moment auch Ideen nach (merkt sie sich allerdings nicht). Trifft er aber mit einem ähnlich passiven, unkreativen Kind zusammen, dann ist es für uns immer eine Qual, dem Treiben zweier Kinder, die nichts mit sich anzufangen wissen, zuzusehen. Wenn er von einer Reise nach Hause oder wir aus dem Urlaub kommen, stürzt er sich nicht als erstes auf seine Spielsachen im Kinderzimmer, sondern scheint sich überhaupt nicht dafür zu interessieren.

Wenn man mit ihm zusammen (und möglichst noch exklusiv, also ohne Störung durch die Kleine) spielt, kann man sehr konzentriert, intensiv und lange spielen, muss aber auch hier immer wieder die Initiative ergreifen und anregen/vorspielen. Stellt man ihm die Kiste mit den Eisenbahnbauteilen hin und fügt die ersten Schienen aneinander, setzt er das nur fort, wenn man selbst auch weiterbaut. Sobald man aufhört, macht er dasselbe. Knetet man mit ihm zusammen die lustigsten Dinge, erhofft man sich, dass er das fortsetzt. Für ihn ist aber sofort die Luft raus, wenn keine Anregung mehr vorhanden ist. Er hilft auch gern bei bestimmten Haushaltstätigkeiten mit, was wir immer unterstützt haben. Er ist dann sehr glücklich, wenn er solch eine ausschließliche Zuwendung bekommt. Allerdings heißt das leider nicht, dass er sich nach einer gemeinsamen Aktivität allein weiter beschäftigt, weil die Erwachsenen etwas anderes zu tun haben. Nein, er ist dann tödlich beleidigt und stoppt das Spiel sofort, wenn man ihm erklärt, dass man sich jetzt Anderem zuwenden muss. Dann jammert er, wälzt sich vor Langeweile auf dem Boden und sagt undankbare Dinge zu uns, die wir uns vorher lange mit ihm beschäftigt haben. Das ist so schade.

Was mir Sorgen macht, ist, dass sein Spielverhalten auf die Kleine abfärbt, die eigentlich andere Anlagen hat. Sie konnte sich schon als Baby besser als er beschäftigen, auch nicht sehr lange, aber sie hat sich wenigstens für Spielzeug interessiert. Sie hat selber Dinge ausprobiert und man konnte auch öfter neben ihr sitzen, während sie vor sich hin gespielt hat, was beim Großen undenkbar war. Wenn sie nicht gerade eine super anhängliche Phase hat, kann man eigene Tätigkeiten erledigen und sie nebenbei versorgen, wie hier beschrieben. Sie bewegt sich auch selbstständig von uns Eltern weg und kann sich eine Zeitlang allein im Kinderzimmer aufhalten, holt sich selber Sachen runter und "erfindet" neue Spielweisen. Als der Große den Tiptoi-Stift mit dem Feuerwehr-Buch bekam, riss sie ihn eine ganze Weile an sich, während sich der Große kaum dafür interessierte. In letzter Zeit allerdings merkt man, wie sie immer anspruchsvoller wird und noch mehr Beschäftigung als ohnehin schon einfordert. Da sie von ihrem Bruder kaum kreative Spielanregungen bekommt, erwartet sie dies von uns Eltern. Ich weiß aber, dass sie das Potential dazu hat, selbstständig (z. B. kleine Rollenspiele) zu spielen und bin immer ziemlich frustriert, dass ihr Bruder dabei so gar keine Anleitung gibt, weil er es eben selbst nicht kann.

Ich habe meine Eltern befragt, wie mein Spielverhalten als Kind war, weil wir uns nicht erklären können, wieso der Große so unkreativ und einfallslos ist. Nach ihren Aussagen war ich schon früh sehr selbstständig und habe mich viel allein beschäftigt, vor allem Bücher angeschaut und mit Tieren, Figuren, Puppen, später Kaufladen etc. gespielt. Meinen jüngeren Bruder, der ein ähnlich unkreativer Spieler war wie mein Großer, habe ich so immer unterhalten und abgelenkt, was meine Eltern entlastete. Ich kann mich aber erinnern, dass mir viele Spielsachen kindisch erschienen. Mein Mann berichtet ebenfalls, dass er immer eine Beschäftigung für sich wusste. Die fehlende Selbstbeschäftigung des Großen finden die Großeltern übrigens auch sehr anstrengend; sie ist einer der Gründe dafür, dass sie ihn nicht mehr als 3-4 Tage zu sich nehmen. Er kann wie gesagt sehr ausdauernd spielen, mit Puzzles, mit Lego, mit Rittern, lässt sich gern Bücher vorlesen und in handwerkliche und Haushalts-Tätigkeiten einbeziehen. Aber alles nur mit exklusiver Zuwendung und Beschäftigung. Dann ist er der dankbarste, willigste und angenehmste Spielpartner (ausgenommen Gesellschafts-/Wettbewerbsspiele). Aber allein geht nicht viel. Und die Kleine kann sich in dieser Hinsicht nichts von ihm abschauen, obwohl sie so wissbegierig ist. Leider schwindet ihre ursprüngliche Selbstständigkeit beim Spielen immer mehr, weil sie sieht, dass der Große fast permanent Aufmerksamkeit erhält. Das ist eine ungute Entwicklung.

Dass unsere Kinder eine enge Beziehung zu uns haben und gern und am liebsten mit uns spielen, ist ja grundsätzlich in Ordnung. Dass die Grundveranlagung zum selbstständigen, kreativen Spielen vorhanden oder nicht vorhanden sein kann, ist nicht änderbar. Dass der Große sich am liebsten mit Erwachsenen beschäftigt, ist auch eine Tatsache. Wenn ein Spielen ohne uns aber gar nicht (wie im Falle des Großen) oder fast nicht mehr (wie bei der Kleinen) möglich ist, dann müssen wir gegensteuern. In unserem eigenen Interesse. Nur ist das nicht so einfach, vor allem für meinen Mann, der die Kinder unter der Woche nur morgens und abends sieht und die wenige Zeit selbstverständlich ihnen widmen möchte. Wir haben uns jetzt erstmal für die Wochenenden kleine bewusste Auszeiten vorgenommen, die wir den Kindern auch so kommunizieren wollen. Heute lief das so, dass in dieser Zeit mehrere Spielzeuge kaputt gemacht wurden, die Kleine die Wohnzimmerwand anmalte und der Große alle paar Minuten zu einem von uns kam und fragte, ob es uns schon reichte. Naja. Neuer Versuch. Übrigens: wenn einer von uns Eltern mit beiden Kindern spielt und der andere Elternteil in der Wohnung ist, wird dieser sofort von demjenigen Kind, das vermeintlich zuwenig Aufmerksamkeit bekommt, gesucht. Laut und konfliktreich geht es sowieso immer ab, da keiner der beiden nachgiebig ist und sie sich permanent um die Ressourcen streiten. Eine schwierige Angelegenheit also.

Habt ihr auch Kinder, die sich schlecht beschäftigen können? Was macht ihr da?

Freitag, 10. Juli 2015

Mein Kind ist hochsensibel - was tun? (Buchrezension)

Es gibt erfreulicherweise mittlerweile viele Bücher, Webseiten, Gruppen und Informationen über hochsensible Kinder. Den überwiegenden Teil der Bücher habe ich schon gelesen und kann deshalb ganz gut vergleichen. Empfehlenswerte Literatur findet sich in meiner Buchliste in der Sidebar. Jede weitere Beschäftigung mit dem Thema ist trotzdem hochwillkommen und wird von mir unter die Lupe genommen. So auch das gerade erschienene Buch von Rolf Sellin: Mein Kind ist hochsensibel - was tun?, das mir der Kösel Verlag freundlicherweise als Rezensionsexemplar zur Verfügung stellte. Der Autor ist Leiter des HSP-Instituts Stuttgart und hat schon zwei weitere Bücher über Hochsensibilität veröffentlicht, nämlich Wenn die Haut zu dünn ist: Hochsensibilität - vom Manko zum Plus und Bis hierher und nicht weiter: Wie Sie sich zentrieren, Grenzen setzen und gut für sich sorgen.

Das hier rezensierte Buch ist im Gegensatz zu einigen der anderen erhältlichen Bücher über hochsensible Kinder nicht chronologisch aufgebaut, d.h. behandelt die Hochsensibilität nicht nach der Abfolge von Baby-, Kleinkind-, Schulalter und Pubertät. Es orientiert sich eher an den Charakteristika der Hochsensibilität wie Reizverarbeitung, anderer Wahrnehmung, Ängsten, Vollkommenheitsstreben und Ruhebedürfnis, Grenzfindung und Fremdheitsgefühl und beschreibt anhand dieser Aspekte die Problematik und das Potential hochsensibler Kinder. Das Buch ist gespickt mit vielen praktischen Tipps, Anregungen und Übungen, beinhaltet individuelle Fallgeschichten und zwei Tests für Kinder und Erwachsene. Das ganze Buch durchzieht auch der Rekurs auf hochsensible Erwachsene, denn die Grundlage für ein Erwachsenenleben, das konstruktiv und liebevoll mit der eigenen Hochsensibilität umgeht, wird natürlich in der Kindheit gelegt.

Das Eingangskapitel skizziert das Phänomen der Hochsensibilität relativ knapp und ist meiner Meinung nach ohne Vorkenntnisse nicht als Einführung in das Thema geeignet. Da gibt es wesentlich bessere Beschreibungen, aber ich vermute, dass der Autor auch schon von einer gewissen Vertrautheit mit dem Thema ausgeht. Er betont von Anfang an die Wechselwirkung zwischen hochsensiblen Erwachsenen/ Eltern und ihren Kindern: "Dabei hat die Art und Weise, wie ein hochsensibler Elternteil mit sich selbst umgeht, den größten Einfluss auf die Entwicklung des Kindes." (S. 10) Eltern, ob hochsensibel oder nicht, machen sich nach der Erkenntnis über die Hochsensibilität des Kindes meist viele Sorgen, z.B. um schulische Aspekte, soziale Interaktionen und allgemein um die spätere Existenzfähigkeit in der heutigen reizüberfluteten und beschleunigten Welt, die für Hochsensible eine nie dagewesene Herausforderung darstellt. Sellin sagt deutlich, dass es weder darum gehen kann, ein hochsensibles Kind für's Leben abzuhärten noch es zu schonen und zu verzärteln, sondern Hochsensibilität "zu akzeptieren und darüber hinaus auf sinnvolle Weise zu entwickeln" sowie "bewusst einzusetzen" (S. 29). Dies betrifft Bereiche wie allgemeine Reizüberflutung, Ernährung, Medienkonsum, Reisen, Krankheiten etc. Es ist wichtig, dass Eltern um die Besonderheiten hochsensibler Kinder in diesen Aspekten wissen, damit sie selbst angemessen damit umgehen und den Kindern einen gesunden Umgang vorleben und beibringen können.

Es gibt in dem Buch kurze, aber hochinteressante Abschnitte über hochsensible Jungen, über das Konfliktverhalten hochsensibler Kinder und über hochsensible Väter und Mütter. Ein großes Augenmerk wird auf das Verhältnis eines hochsensiblen Elternteils zu seinem hochsensiblen Kind gelegt, das sich sehr viel komplexer, oftmals schwieriger darstellt als das zum nicht-hochsensiblen Elternteil, das zwar von Unverständnis, aber Eindeutigkeit und Klarheit geprägt ist. Vom nicht-hochsensiblen Elternteil, sofern vorhanden, können hochsensible Kinder wichtige Fähigkeiten lernen, zum Beispiel das Setzen von Grenzen, den Umgang mit Ängsten, Geselligkeit und "mehr Klarheit, Konsequenz und Handlungsorientiertheit" (S. 80). Das hochsensible Elternteil ist wiederum für das Verständnis zuständig, was zwar ein außerordentliches Hineinfühlen ins Kind bedeutet, aber auch Gefahren und Schwierigkeiten birgt. "In seinem Kind erkennt er eigene Wesenszüge wieder, und darauf reagiert er. Sein eigenes Verhältnis zu sich und seiner Hochsensibilität spiegelt sich folglich im Verhältnis zu seinem hochsensiblen Kind." (S. 76f.)

Laut Sellin bestehen besondere Schwierigkeiten für hochsensible Eltern beim Konsequent-Sein und Grenzen-Setzen sowie durch zu ausgeprägtes Mitleiden. "Hochsensiblen Erwachsenen fällt es nicht leicht, ihren Kindern Grenzen zu setzen [...]. Gewissermaßen rutschen sie energetisch in ihr Kind hinüber [...] und erleben ihr Kind dann aus dessen Perspektive." (S. 109) Da er ein großes Gewicht auf das Erkennen, Setzen und Einhalten von eigenen und fremden Grenzen legt, sieht er das außerordentliche Hineinfühlen ins Kind logischerweise eher als einen Nachteil bzw. eine Gefahr an als einen Vorteil. Seiner Überzeugung nach brauchen hochsensible Kinder viele eindeutige und klare Aussagen, die ein hochsensibles Elternteil nicht ohne Weiteres bieten könne. Die größte Schwierigkeit für hochsensible Eltern besteht in dem ausgeprägten Mitleiden mit ihrem Kind, das nach Sellin "eine zusätzliche Last für ein betroffenes Kind darstellt" (S. 128), da es durch das ausgiebige Mitleiden der Eltern nicht wagt, "sich in seiner Bedrängnis den Eltern zu offenbaren" (S. 128). Gerade hochsensible Eltern sollten sich dessen bewusst sein und bei Leiden des Kindes möglichst nur ruhig zuhören und das Kind auffangen, anstatt ihm zusätzlich noch ihr eigenes Leid aufzubürden.

Über diese beiden problematischen Aspekte beim Umgang hochsensibler Eltern mit ihrem hochsensiblen Kind kann man sicherlich geteilter Meinung sein. Ich persönlich sehe eher die Vorteile beim Hineinversetzen in das Kind und beim Mitfühlen. Beides erleben Kinder ja nur marginal in der "äußeren", nicht-hochsensiblen Welt. Deshalb meine ich, gerade ein hochsensibles Elternteil kann und muss das leisten, was den Kindern von anderen Erwachsenen nicht entgegen kommt. Ich habe selbst, sowohl in meinen Kindheitserinnerungen als auch mit meinem hochsensiblen Kind, die Erfahrung gemacht, dass es oftmals der beste Weg ist, die Gefühle und seelischen oder körperlichen Schmerzen des Kindes vorbehaltlos anzuerkennen, auch wenn es den Schmerz beim Kind im ersten Moment vielleicht verstärkt. Auf lange Sicht hingegen ist solch eine Umgehensweise meiner Meinung nach tröstender als ein reines Dabeisein und Zuhören. Außerdem ist es für ein hochsensibles Elternteil fast unmöglich, das intensive Mitleiden mit dem Kind abzustellen, da das Gefühl so existenziell und oftmals durch eigene mangelnde Kindheitserlebnisse geprägt ist. Dennoch ist es sicherlich richtig, einen gesunden Mittelweg zu finden und sich selbst immer wieder zu reflektieren. Dazu kann man beispielsweise in der Vorstellung die eigene Kindheit noch einmal durchleben und in Kontakt zu seinem Kind-Ich gehen, um so auch die feinen Unterschiede zwischen sich selbst und dem eigenen Kind zu erkennen. "Vergleichen Sie also das Kind, das Sie selbst damals waren, seine Eigenschaften, Wünsche und Vorlieben, mit Ihrem Kind. Stellen Sie alle Unterschiede fest, seien sie auch noch so klein." (S. 190) Denn auch wenn ein hochsensibles Elternteil und sein hochsensibles Kind die gleichen Grundcharakteristika haben: identische Menschen sind sie eben nicht, und das muss ein hochsensibles Elternteil erkennen und akzeptieren.

Die letzten Kapitel gehen sehr ausführlich auf Hochsensibilität im Schulkindalter und in der Pubertät ein sowie den Ablösungsprozess der Kinder von ihren Eltern, der für hochsensible Familienkonstellationen noch einmal besondere Schwierigkeiten bergen kann. Es gibt hier interessante und hilfreiche Tipps, z.B. für den Umgang mit Sport und Hausaufgaben und die Wahl des Schultyps, der oftmals weniger einflussreich für das Wohlbefinden des Kindes ist als die Lage einer Schule zum Wohnort, da schon ein weiter Anfahrtsweg zuviel Stress für ein hochsensibles Kind bedeuten kann. Genauso ist es bei der Berufswahl: "Viel wichtiger als die Art des Berufes ist für den Berufserfolg eines Hochsensiblen der Umgang mit der Reizaufnahme und der Abgrenzung, mit Belastungen und Stress. Denn all diese Faktoren wirken sich auf den Energiehaushalt aus." (S. 164)

Diese Bereiche sind für mich bisher nur theoretisch interessant, da sich meine Kinder noch im Kleinkindalter befinden. Dafür vermisste ich aber in dem Buch eine ausführliche, mit ähnlich hilfreichen Ratschlägen bereicherte Passage über die Baby- und Kleinkindzeit. Am Ende werden die im Buch erwähnten Erkenntnisse, Tipps und Methoden noch einmal kurz und knapp und sehr hilfreich zusammengefasst. Diese 20 Punkte sollte Eltern sich regelmäßig in Erinnerung rufen, wenn ihnen an einem verständnisvollen und unterstützenden Umgang mit ihrem hochsensiblen Kind gelegen ist. Insgesamt legt Sellin überzeugenderweise sehr viel Wert auf die Selbsterkenntnis von hochsensiblen Eltern, die ihren Kindern den fruchtbaren Umgang mit der Hochsensibilität vorleben: "Manchmal ermöglicht die Selbstannahme erst die Annahme des Kindes, manchmal ist es umgekehrt: die Beschäftigung mit der Hochsensibilität des Kindes ermöglicht es, dass sich der hochsensible Erwachsene selbst annehmen kann. Das Kind gibt den Anstoß zur Selbsterkenntnis, zur inneren Befreiung und Entwicklung des eigenen Wesens." (S. 17)

Das Buch von Rolf Sellin ist auf jeden Fall ein sehr lesenswerter, bereichernder Bestandteil der Literatur über hochsensible Kinder. Gerade für Eltern älterer Kinder gibt es viele hilfreiche Anregungen. Eltern von Babys und Kleinkindern dagegen würde ich eher zu anderen Büchern raten. Einige Gedanken habe ich noch in keinem der anderen erhältlichen Bücher gelesen und waren eine gute Anregung zum Nachdenken und Reflektieren.

Ich danke dem Kösel Verlag nochmals für das Rezensionsexemplar.

Link zu Amazon: Mein Kind ist hochsensibel - was tun?: Wie Sie es verstehen, stärken und fördern 

Montag, 6. Juli 2015

Wenn die Kleine jetzt die Große würde

Die Kleine ist heute 26 Monate alt und damit genauso alt, wie der Große war, als sie geboren wurde und er ein Geschwisterchen bekam. Deshalb habe ich mich in letzter Zeit viel an diese Zeit zurück erinnert und mir anhand meiner Aufzeichnungen und Erinnerungen versucht ins Gedächtnis zu rufen, wie es damals mit ihm war, auf welchem Entwicklungsstand er sich befand, wie wir das Leben mit ihm empfanden und wie er damit klarkam, auf einmal ein großer Bruder zu sein.

 

Einerseits kommt mir die Kleine noch sehr jung vor und ich kann mir kaum vorstellen, wie es wäre, jetzt ein Baby zu bekommen und für sie nicht mehr in dem Maße da sein zu können wie bisher. Diesen Altersunterschied halte ich weiterhin für sehr kurz, da das größere Kind mit knapp über 2 Jahren ja noch sehr abhängig, bedürftig und unselbstständig ist. Außerdem kamen mir die 2 Jahre mit ihr wesentlich kürzer vor als mit dem Großen, so dass es jetzt noch merkwürdiger als damals wäre, ein Baby zu bekommen. Andererseits ist sie in vielen Bereichen schon wesentlich weiter entwickelt, als es der Große damals war und man kann sie insgesamt viel besser händeln als ihn.

Was mir immer wieder auffällt, ist, dass sie sprachlich deutlich fortgeschrittener ist als der Große in ihrem Alter. Sie hat einen umfangreichen Wortschatz, verwendet Artikel, spricht lange Sätze und hat kaum Ausspracheschwierigkeiten. Man kann sich mit ihr schon richtig gleichberechtigt unterhalten, was beim Großen mit 26 Monaten noch kaum klappte, obwohl er auch schon einen guten Wortschatz hatte. Die Unterschiede liegen besonders in ihrer Ausdrucksstärke und Reaktionsfähigkeit. Sie reagiert auf das, was man sagt oder fragt, denkt mit und kombiniert. Sie versteht auch Dinge schon ganz anders und ich denke, eine Schwangerschaft mit ihr als großer Schwester wäre anders, mitfühlender, interessierter verlaufen als mit dem Großen. Dieser nahm weder Rücksicht auf meine durchaus manchmal schlechte Verfassung noch fieberte er in irgendeiner Art und Weise mit. Geschweige denn, dass er verstanden hätte, was passieren würde. Bei der Kleinen bin ich mir ziemlich sicher, dass sie ganz anders damit umgegangen wäre, empathischer, verständiger, aufgeregter. Sie sorgt sich um mich, wenn es mir schlecht geht oder ich traurig bin, entschuldigt sich, wenn sie mir weh getan hat und ist insgesamt viel zugewandter.

Der Große hat zum Zeitpunkt der Geburt der Kleinen noch nicht zuverlässig durchgeschlafen, sondern ungefähr jede zweite Nacht. Allerdings in Wellen, d.h. mal eine Woche am Stück durchgeschlafen, dann kamen wieder ein paar unterbrochene Nächte. Aufgrund dessen beschlossen wir eine nächtliche Trennung dahingehend, dass ich mit dem Baby zusammen schlafen sollte und mein Mann im Nebenzimmer des Kinderzimmers, wo der Große schlief, um auf diesen schnell reagieren zu können. Das hat sich bewährt. Wenn er nachts aufwachte, brauchte er auch immer eine ganze Weile, bis er wieder einschlief. Dafür ließ er sich schon von beiden Elternteilen beruhigen. Es dauerte aber noch ein Jahr länger (bis 3 1/4), bis er verlässlich durchschlief. Die Kleine schläft dagegen jetzt noch bei mir im Schlafzimmer und bis zu der aktuellen Episode eigentlich ziemlich zuverlässig durch (seitdem sie ca. 19 Monate alt war). Und sie lässt sich viel schneller wieder beruhigen, wenn sie aufwacht. Allerdings nur von mir, der Papa braucht es gar nicht erst zu versuchen. Das wäre in Hinblick auf ein neues Baby sehr schwierig. So unterschiedlich ist das eben.

Zum Zeitpunkt der Geburt der Kleinen hatten wir schon begonnen, den Großen daran zu gewöhnen, allein zur Familie seines besten Freundes zu gehen. Das geschah einerseits aus Gründen der Entlastung, andererseits auch in Hinblick auf die Geburt, wo er eventuell von ihnen hätte betreut werden sollen (was dann doch anders kam). Ab dem Alter von 2 Jahren verbrachte er öfter mal 2 Stunden am Wochenende bei ihnen, nachdem wir uns schon vorher sehr oft gegenseitig besucht und nachmittags zusammen unterwegs gewesen waren. Das klappte nach Überwindung der Trennungssituation ganz gut, wenn man bedenkt, was für ein Klammerkind er war. Auch mit den Großeltern war er bei ihren seltenen Besuchen schon 2-3 Stunden allein unterwegs. Die Kleine dagegen war bis zum heutigen Tag noch nie allein bei befreundeten Familien und nur ein einziges Mal allein mit Oma und Opa unterwegs, als der Große auf einem Kindergeburtstag war. Es ist einfach schwieriger, für das zweite Kind eigene Kontakte aufzubauen und zu pflegen. Dafür wächst sie wie selbstverständlich in zwei befreundete Familien hinein, deren älteres Kind im Alter des Großen ist und das kleinere etwas jünger als die Kleine. Vom Gefühl her war der Große also in ihrem Alter schon mehr "flügge" und öfter mal weg, obwohl er viel zurückhaltender und anhänglicher war. Außerdem hatten wir da schon unsere mehrmonatige Babysitter-Odyssee hinter uns und er war im Gegensatz zur Kleinen daran gewöhnt, dass sich fremde Menschen in unserer Wohnung aufhielten.Wenn sie aber unser erstes Kind gewesen wäre, würde das mit Sicherheit auch anders aussehen.

Der Große wurde etwas nach ihrer Geburt, mit ca. 2 1/4 tagsüber trocken, was zum großen Teil das Verdienst seiner Bezugserzieherin war, die sich in seiner Entthronungszeit rührend und zuverlässig um ihn kümmerte und ihm in der Kita einen sicheren Hafen bei all den häuslichen Veränderungen schuf. Die Kleine ist ja gerade überraschend und völlig selbstbestimmt trocken geworden, wie hier beschrieben, und geht in den letzten Tagen völlig eigenständig zur Toilette. Sie ist außerdem viel selbstständiger, was das An- und Ausziehen, Mithelfen und Kooperieren betrifft, und der Alltag ist mit ihr wesentlich einfacher zu bewältigen als mit dem Großen in dem Alter. Er wollte damals noch sehr viel getragen werden, was schon in der Schwangerschaft sehr nervig war, mochte keine Treppen steigen und sowieso nicht laufen. Glücklicherweise fuhr er seit seinem 2. Geburtstag, genau wie die Kleine jetzt, Laufrad, was für mich in den letzten Wochen der Schwangerschaft eine große Entlastung war.

Der größte Unterschied ist definitiv, dass die Hauptbezugsperson der Kleinen immer noch eindeutig ich bin, während der Große im gleichen Alter sich zum Papa hinorientiert hatte. Dies begann ca. ein Vierteljahr vor ihrer Geburt und gab uns die Möglichkeit, dass sich der Papa zunehmend um ihn kümmern konnte, während ich mich mit meiner Schwangerschaft und dann dem Baby beschäftigte. Es war eine riesengroße Erleichterung, dass der Große sich selbst mehr dem Papa zuwandte und ich etwas Freiraum gewann. Ob der Große schon in der Schwangerschaft spürte, dass sich bald etwas Grundlegendes verändern würde und er sich deshalb aus Selbstschutz hin zum Papa orientierte, mag sein. Vielleicht hätte das die Kleine in der gleichen Situation auch gemacht. Aber sicher bin ich mir da nicht, da das emotionale Band zwischen ihr und mir ein ganz anderes ist. Jedenfalls hat es deshalb nach der Geburt wunderbar funktioniert, dass ich eine Zeitlang nicht greifbar und auch nicht zuständig für ihn war. Obwohl es stellenweise für mich sehr schmerzhaft war, von der bisherigen Nummer 1 hin zu "Mama weg!" degradiert zu werden, konnte ich dennoch die positive und entlastende Entwicklung erkennen. Wenn die Kleine mich jetzt mit einem Baby-Geschwisterchen teilen müsste, wäre es sicherlich sehr schwierig für sie. Obwohl sie auch dem Papa gegenüber sehr aufgeschlossen und zugewandt ist, bin im Zweifel immer ich es, die zum Trösten und Beruhigen nötig ist.

Also: wenn die Kleine jetzt die Große würde, wäre es in vielen Bereichen (vor allem hinsichtlich der Selbstständigkeit, Kommunikation und Kooperation) für uns sicherlich einfacher als damals mit dem Großen. Sie würde, denke ich, die Ankunft, Versorgung und Integration eines neues Familienmitgliedes interessierter und engagierter verfolgen als der Große. Der Verlust der Mama als Hauptbezugsperson durch ein neues Baby würde sich aber für sie schwieriger gestalten als seinerzeit für den Großen. Das sind natürlich rein theoretische Spekulationen aus meinen Beobachtungen und Erinnerungen heraus. Aber trotzdem spannend, über die eventuellen Unterschiede zu sinnieren.

In jedem Fall ist es wirklich unvorstellbar, heute ein Baby zu bekommen und die Kleine mit 26 Monaten zur großen Schwester zu machen, wie es dem Großen geschehen ist. Sie ist doch noch so klein!

Freitag, 3. Juli 2015

Wochenrückblick

Ich nehme erstmals am Wochenrückblick von Mama Bines Welt teil, weil ich ab und zu auch ganz gern mal tagebuchblogge und euch so ein bisschen an unserem Alltagsleben teilhaben lassen kann.

Am Montag hatte ich meinen freien Tag, den ich immer zum Regenerieren vom Wochenende, das zuletzt kaum freie Zeit für mich bot, und zum Kraftsammeln für die Woche nutze. Die Mischung aus Haushalt, Blog und sonstigen organisatorischen Dingen entspannt mich immer sehr gut und die Ruhe in der Wohnung ist wunderbar. Morgens musste ich die Kinder in die Kita bringen (was sonst mein Mann macht), da er um 7 Uhr schon in unseren Garten fahren musste, weil ein Handwerker unsere Steinterrasse, die teilweise abgesackt war, neu verlegen sollte. Am Nachmittag war ich mit den Kindern auf unserem Stammspielplatz, während mein Mann nach seiner Arbeit die Übergabe der Terrasse im Garten machte und gleich noch Rasen mähte. Am Abend kam unsere Bestellung vom Rewe Lieferservice, was für die Kinder wieder ein Highlight war.


Am Dienstag musste ich früher Feierabend machen, weil wir um 14 Uhr den Kontrolltermin beim Augenarzt mit dem Großen hatten. Er brachte ja von der Kitareise ein rotes rechtes Auge mit und nach einer Woche ging ich deswegen mit ihm zum Augenarzt. Wir bekamen antibiotische Tropfen verordnet, die er auch anstandslos akzeptierte und hatten eben am Dienstag den Nachsorgetermin. Leider ist die Entzündung immer noch nicht abgeklungen und wir müssen ihn weiterhin mit Augentropfen behandeln. Danach hatten wir noch Zeit und gingen Eis und Kuchen essen. Weil ich später noch einen Friseurtermin hatte, warteten wir an der Kita auf meinen Mann, der direkt von der Arbeit kam, die Kleine abholte und mit beiden Kindern in den Garten fuhr, während ich zum Friseur ging.

Der Mittwoch war ein normaler Arbeits- und Kitatag und ich war nachmittags mit den Kindern im Park. Es war schon sehr warm, aber im Park noch erträglich und die Kinder waren gut drauf.


Am Donnerstag kam der Friseur in die Kita und beide Kinder haben jetzt wieder eine hitzetaugliche Frisur. Meine Eltern hatten sich zum Besuch über das Wochenende angekündigt und klingelten um 15 Uhr bei uns. Zusammen holten wir die Kinder ab und gingen in den kühlen Park. Bei Eis, Bratwurst und Füßen im Springbrunnen war die Hitze erträglich. Der Große fasste wieder schnell Vertrauen zu den Großeltern, während die (viel aufgeschlossenere) Kleine wie immer etwas fremdelte.


Freitags hat mein Mann frei und werkelte etwas im Garten. Nachdem die Terrasse jetzt fertig ist, musste nun noch die Umrandung neu gebaut werden. Bei der Hitze sehr unangenehm, aber bei Regenwetter nicht weniger. Wir fuhren nach meinem Feierabend zusammen in den Garten und mein Mann baute in der mörderischen Hitze weiter. Meine Eltern holten die Kinder allein von der Kita ab und wir trafen uns dann um 17:45 Uhr bei uns im Park, weil mein Papa heute Geburtstag hat und uns zu einem Snack eingeladen hatte. Wir aßen gemütlich im Parkcafè und schlenderten dann nach Hause, badeten die Kinder und brachten sie ins Bett. Meine Eltern berichteten, dass die Kleine nicht mit ihnen mitkommen wollte, als sie sie abholten, stark weinte und sich sträubte. Nur mit Hilfe einer Erzieherin schafften sie es, die Kleine loszueisen. Das ist natürlich schade, aber kein Wunder, da sie sie ja so selten sieht.


Am Wochenende werden wir wohl viel Zeit im Garten und im Planschbecken verbringen. Eigentlich sollen die Großeltern uns, wenn sie denn (selten genug) schon mal da sind, etwas mit den Kindern entlasten, sprich mit den Kindern allein rausgehen. Das letzte Mal waren sie zu Ostern bei uns, wir hätten es also dringend genug nötig. Da man aber bei dieser Hitze gar nichts unternehmen kann, wird es wohl auf gemeinsame Gartentage hinauslaufen. Immerhin sind dann noch zwei entlastende Personen da.

Wünsche euch ein schönes Wochenende!