Sonntag, 27. März 2016

Gedanken über die intuitive Verbindung

In meinem Text Liebe fühlt sich sehr verschieden an habe ich über den unterschiedlichen Zugang zu meinen Kindern geschrieben und darüber, dass es zwischen der Kleinen und mir gefühlsmäßig "fließt", wir uns intuitiv verstehen und sie mir unheimliche Kraft gibt, während die Beziehung zu meinem Großen anstrengend, herausfordernd und oft schmerzhaft, aber sehr lehrreich und tiefgründig ist. Ich habe auch erwähnt, dass es schwierig ist, über dieses Thema zu schreiben, weil die Äußerung solch unterschiedlicher Gefühle leicht missverstanden werden kann. Aber es hat mir damals unheimlich gut getan, die Gedanken niederzuschreiben und ich konnte dadurch selbst einiges sortieren, was mir vorher nicht so klar war.

Vor kurzem habe ich ein Heftchen aus der Schriftenreihe von Familylab, der nach den Grundsätzen von Jesper Juul arbeitenden Familienwerkstatt, entdeckt, was mein Interesse und eine tiefe Ahnung in mir weckte. Es heißt Die intuitive Verbindung: Wenn ein Elternteil besondere Bedeutung für das Kind hat und behandelt ein heikles Thema, von dem Juul selbst sagt: "Viele Jahre lang habe ich mich gescheut, über dieses Thema zu schreiben - vor allem, weil ich befürchtet habe, dass Eltern in Trennung das beschriebene Phänomen gegeneinander und gegen ihre Kinder benutzen könnten." (S. 7). Ich denke, man muss gar nicht so weit gehen, um das gesellschaftliche Tabu zu spüren, das vorherrscht, wenn man von einer besonders intensiven, existenziellen Verbindung zu einem seiner Kinder berichtet. Weil diese Verbindung oft mit Liebe verwechselt und deshalb von außen unterstellt oder gar selbst befürchtet wird, man liebe das eine Kind mehr, stärker oder tiefer als das andere. Beides weckt in Eltern, die eine besondere Verbindung zu einem ihrer Kinder spüren, Schuldgefühle, was dazu führen kann, dass sie sie verleugnen und damit sich selbst und ihrem Kind die Möglichkeit nehmen, das Potential dieser Verbindung auszuschöpfen.

Juul betont: "Das Wichtigste ist, dass wir verstehen, dass die intuitive Verbindung nichts mit Liebe zu tun hat. Diese Art der Verbindung gehört zu keiner emotionalen Kategorie. Sie bedeutet nicht, dass dieser oder jener Vater sein Kind mehr liebt als die Mutter oder als seine anderen Kinder, und sie bedeutet auch nicht, dass das Kind seinen Vater mehr liebt als die Mutter." (S. 15). Das sollte man immer im Hinterkopf behalten. Sie ist auch unabhängig von einer erfolgreich aufgebauten Bindung in den ersten Lebensjahren eines Kindes, sondern kann auch bei Abwesenheit eines Elternteils durch räumliche Trennung, Tod oder Unengagement deutlich gespürt werden.

Was bedeutet nun die intuitive Verbindung zwischen einem Kind und einem seiner Elternteile? Aus Elternsicht ist es das Spüren einer besonderen, existenziellen Verbundenheit mit einem Kind. Aus kindlicher Perspektive heraus formuliert Juul es so: "Die intuitive Verbindung ist eine existenzielle Verbundenheit, über die das Kind lernt, wie das entsprechende Elternteil mit den Herausforderungen und den Segnungen des Lebens umgeht, und über die das Kind diese Kompetenzen und Muster in sein eigenes Sein integriert." (S. 16). Das können positive, aber auch negative Impulse sein. Wenn das intuitiv verbundene Elternteil beispielsweise selbstzerstörerische Verhaltensweisen an den Tag legt, so wird es sehr wahrscheinlich sein, dass das Kind dies wiederholt, egal, wie sehr es solche Impulse ablehnt oder kritisiert. Wenn das Elternteil allerdings die Verantwortung, die ihm obliegt, anerkennt und das intuitiv verbundene Kind in seinem Lebensweg angemessen unterstützt, dann kann solch eine Verbindung ein ungeheures Potential entwickeln. Dazu gehört übrigens auch, dass der andere Elternteil von einer eventuellen Eifersucht Abstand nimmt und die besondere Verbindung beider Familienmitglieder unterstützt, z. B. wenn das Kind zum Vater eine intuitive Bindung hat, obwohl dieser viel seltener anwesend ist als die Mutter und diese deshalb vielleicht gekränkt ist.

Juul bringt einige Fallgeschichten und Beispiele von Kindern mit kleineren oder größeren Problemen, wo die Anerkennung der intuitiven Verbindung zu einem Elternteil zu einer psychischen Heilung, zu einer Verhaltensänderung führte. Solche Kinder erleben Trennungen oder die Leugung der besonderen Verbindung durch das entsprechende Elternteil nicht nur emotional, sondern als extrem existenziell und kaum zu ertragen, so dass selbst das andere, gut für sie sorgende Elternteil es nicht schafft, sie aus ihrer Melancholie oder Depression herauszuholen. Erst das Bewusstmachen der besonderen Verbindung und damit auch Verantwortung durch die Juulsche Nachhilfe brachte eine deutliche Besserung. Man könnte also auch sagen: du kannst dich noch so gut um dein Kind kümmern und wirst trotzdem nie die tiefgreifende Bedeutung als Rollenvorbild erlangen wie das intuitiv verbundene Elternteil, auch wenn dieses weniger präsent ist. Juul sagt allerdings auch deutlich, dass das andere Elternteil trotzdem genauso wichtig ist - "als das Halt gebende Elternteil" (S. 13). Manchmal spürt auch zuerst das nicht intuitiv verbundene Elternteil die besondere Beziehung der beiden anderen Familienmitglieder und kann sie unterstützen, wenn sie sie selbst verleugnen oder nicht bemerken.

Was bedeuten diese Ausführungen nun für mich und meine Beziehung zu meinen Kindern? Ich kann gleich vorab sagen, dass ich zu keinem abschließenden Urteil gekommen bin. Ich werde über das Thema immer wieder nachdenken und vielleicht bekomme ich auch von euch einige Anregungen. Vom Gefühl her würde ich, wenn wir das Juulsche Konstrukt, was lediglich auf seiner langjährigen Erfahrung und nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, als Grundlage nehmen, eine intuitive Verbindung zu meiner Kleinen sehen. Ich schrieb ja auch schon in dem oben genannten Text: "Meine Beziehung zur Kleinen ist ganz anders. Für mich ist es eine intuitive Beziehung." So fühlte ich es von Anfang an und bis heute. Ich sehe in ihre Augen und spüre tiefes Verstehen. Ich verstehe ihre Gedanken, ihre Handlungen, ihre Probleme. Wir fühlen beide unsere gegenseitige, bedingungslose und schwankungsfreie Zuneigung. Sie gibt mir Kraft und bringt mich oft melancholischen Menschen zum Lachen und Freuen. Ich weiß meist intuitiv, was sie bewegt und wie ich ihr helfen kann. Ob sie mich umgekehrt als Rollenvorbild sieht, weiß ich natürlich nicht. Ich sehe nur, was ich von ihr zurückbekomme, und das ist unheimlich viel. Ohne ihre Zuneigung, ja ohne ihre Existenz würde ich eingehen, das ist ein Kennzeichen einer intuitiven Verbindung. Sie hat ein ganz anderes Temperament als ich, ist mir aber in ihren Denkstrukturen sehr ähnlich. Sie hat mich, die mit ihrer Mutterrolle so oft und lange haderte, mit einer Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit als Mama in Beschlag genommen, die ich bewundere und die mich immer wieder rührt. Ich spüre eine tiefe Bindung zu ihr und bin gespannt, wie wir uns gemeinsam weiterentwickeln.

Nun sagt aber Juul eindeutig, dass eine intuitive Beziehung keine konfliktlose Beziehung sein muss, im Gegenteil, dass sie voller Reibungspunkte sein und sogar aus Enttäuschung bis hin zum Kontaktabbruch führen kann. "Ein intuitiv verbundenes Elternteil wird, wenn es sich seiner Bedeutung im Leben des Kindes nicht bewusst ist, oft sehr destruktive Konfrontationen mit dem Kind erleben. Das passiert, weil das Kind sich danach sehnt, dass das entsprechende Elternteil die besondere Verbindung erkennt und wertschätzt, und weil es frustriert und verzweifelt wird, wenn das nicht geschieht." (S. 59). Und weiter: "Diese Eltern sind oft genauso frustriert, und sie zweifeln an ihrem eigenen Wert als Eltern." (S. 60). Diese Gefühle kenne ich in Hinblick auf meine Beziehung zu meinem Großen nur zu gut, wie beispielsweise in Zweifel am richtigen Weg beschrieben. Ich weiß oft nicht, was der richtige Weg ist, mit ihm umzugehen, das war in der Babyzeit so und setzt sich bis heute fort. Wenn ich in seine Augen schaue, sehe ich viele Fragezeichen und viel Unsicherheit, bei mir und bei ihm. Wir hatten tatsächlich sehr viele destruktive Konfrontationen in unseren bisherigen gemeinsamen Jahren und geraten immer wieder aneinander, weil ich seine Denk- und Handlungsweisen oft überhaupt nicht nachvollziehen kann. Seinen Gemütszustand dagegen schon, seine seelischen Schwankungen, seine hochsensiblen Wesenszüge und sein Bedürfnis nach äußerer Stabilisierung. Darin sind wir uns sehr ähnlich, das erkenne ich sehr wohl. Auch bin ich diejenige, die sein Wesen "übersetzt" für andere Menschen und die er deshalb, das denke ich schon, sehr nötig braucht. Aber vielleicht interpretiere ich dies auch nur hinein, denn gezeigt bekomme ich dies von ihm nicht oder selten. Ich selbst habe eine sehr emotionale Beziehung zu ihm, sein Leid betrifft mich unmittelbar und es lässt mich oft verzweifeln, dass ich ihm so wenig helfen kann. Ich fühle das dringende Bedürfnis und die Verantwortung, gerade ihn bei der Bewältigung seines Lebensweges mit seinen ganz individuellen, nicht einfachen Voraussetzungen zu unterstützen, vor allem beim Umgang mit seinen hochsensiblen Komponenten. Diese Verantwortung fühle ich für ihn viel stärker als für die Kleine. Aber eine intuitive Beziehung spüre ich nicht zu ihm.

Aber was ist, wenn er sie beispielsweise zu einem von uns fühlt und das Gefühl hat, dass ich (oder sein Papa) sie nicht anerkenne? Und es deshalb immer wieder zu Konflikten und Missverständnissen kommt bzw. er Kontakt einfordert? "Für das Kind ist das ein grundlegendes existenzielles Bedürfnis, das das Potential hat, für das intuitiv mit ihm verbundene Elternteil zu einer existenziellen Herausforderung zu werden." (S. 59f.). Und als eine für mich existenzielle Herausforderung habe ich meinen Großen schon immer empfunden, wie ich auch in dem Text Liebe fühlt sich sehr verschieden an schon schrieb. Es ist unheimlich schwierig, da die "richtigen" Beweggründe zu erkennen und ich hätte mir gewünscht, dass Juul noch mehr Anzeichen, an denen man eine intuitive Verbindung erkennt, beschreibt. Da ich selbst keine intuitive Verbindung zu einem meiner eigenen Elternteile spüre, ist es für mich auch Neuland, obwohl ich die Existenz solcher Beziehungen durchaus für wahrscheinlich halte. Vielleicht fühlt er auch eine intuitive Verbindung zu seinem Opa, meinem Vater, zu dem er wirklich eine ganz besonders enge Beziehung hat und den er unter Umständen als Rollenvorbild sieht. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass so etwas auch eine Generation überspringen kann. Aber das ist alles Spekulation. Letztendlich gilt, was Juul betont: "Kein Außenstehender - sei es ein Familienmitglied, ein Freund oder eine Therapeutin - kann feststellen, ob die intuitive Verbindung in einer bestehenden Eltern-Kind-Konstellation wirklich existiert. Sie kann von anderen als Möglichkeit formuliert werden, doch bestätigt werden kann sie nur von dem betreffenden Erwachsenen und dem betreffenden Kind." (S. 18). Und dazu müssen sicherlich noch einige Jahre ins Land gehen.

Das kleine Heft von 75 Seiten über Die intuitive Verbindung ist wahnsinnig interessant zu lesen und rührt an einem sehr emotional besetzten Thema, weshalb Juul selbst sich bis dahin nur mündlich darüber äußerte. Er möchte aber vor allem "die Leser dazu anregen, sich und ihre Kinder in einem anderen Licht zu sehen" (S. 8), und er hat durch die Lektüre auf jeden Fall bei mir noch mehr die Sensibilität für dieses Thema gesteigert. Zu einem endgültigen Ergebnis bin ich nicht gekommen und ich bin gespannt, was ihr dazu sagt. Spürt ihr zu einem Kind eine besondere, intuitive Verbindung? Habt ihr vielleicht sogar zu einem eurer Eltern eine solche Beziehung? Wie geht ihr damit um? Was meint ihr zu den Juulschen Gedanken? Wie gesagt, die Vorstellung der intuitiven Verbindung beruht auf der Juulschen Erfahrungswelt und nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Wer schon einmal an anderer Stelle über dieses Thema gelesen hat, kann mir gern Tipps und Links hier lassen.

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1 Kommentar:

  1. Ich habe das Hörbuch angehört. Ich bin mir selber bei meinem Sohn unschlüssig ob er eine Intuitive verbidung zu mir oder seinem Vater hat.
    Unser Sohn hängt sehr an mir, und bevorzugt mich bei vielen Dingen die eher sehr privat sind. Wie Zähneputzen, helfen beim Pipi machen, ins Bett bringen.
    Trotzdem meint mein 4jähriger Sohn, er würde mich nur ein bisschen lieb haben, und Papa sehr doll lieb haben.

    Papa kann super gut mit ihm spielen, wärend ich das gar nicht so gerne mache.
    Ich gehe lieber mit ihm z.B. ins Schwimmbad oder im Wald spazieren, das gefällt ihm auch gut.
    Morgens ist Papa der erste zu dem er geht, danach kann er ihn erstmal nicht sehen, weil Papa arbeiten geht. Wahrscheinlich vermisst er ihn dann Tagsüber, wodurch er die Gefühle für seinen Vater stärker wahrnimmt.
    Für mich sind bei uns beiden Eltern verschieden Merkmale der intuitiven Verbindung erfüllt. Vielleicht ist bei uns dass Bindungsverhältnis in etwa gleich aufgeteilt, und jeder hat seine Bereiche mit denen er unserem Sohn nahe sein kann.

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