Samstag, 30. Juni 2018

Die U9 der Kleinen am 18. Juni 2018

Ich weiß noch sehr gut, wie aufgewühlt und erschöpft mich die U9 des Großen vor 2 Jahren zurückließ. Dort gab es nämlich Auseinandersetzungen bezüglich der Frage, ob man es einem Kind zumuten könne, direkt nach Ankunft in der Praxis, unvorbereitet und gegen das Versprechen der Mama mit einer völlig fremden Arzthelferin mitzugehen, um einen Test zu machen. Es gab viel Aufregung und Unverständnis am Anfang für meine deutliche Abwehrreaktion, dann eine wunderbar verlaufene U9 mit einem grandiosen Großen und schließlich am Ende ein versöhnliches, empathisches Gespräch mit der Kinderärztin. Dennoch fühlte ich mich danach unendlich ausgelaugt, denn diesem Muster begegne ich immer wieder, seit ich meinen Großen habe: einerseits Unverständnis für unseren ganz speziellen Weg mit ihm und andererseits die Bestätigung aufgrund seiner Entwicklung und seiner Fähigkeiten, wie gut dieser Weg für ihn war und ist.

Nun ist ja meine Kleine, die diesmal dran war, ein ganz anderes Wesen als der Große und ich wusste, dass die U9 mit Sicherheit weniger aufwühlend verlaufen würde als bei ihm. Trotzdem war ich gespannt auf bestimmte Situationen, da sie anders reagiert als er, nicht so gründlich überlegt, grundsätzlich mutiger ist und gleichzeitig in der letzten Zeit immer schüchterner und zurückhaltender geworden ist. So wie ich die Fähigkeiten des Großen manchmal schwer einschätzen kann, weil er oft erst, wenn es drauf ankommt, zeigt, was er kann, so unberechenbar ist die Kleine, weil sie Flüchtigkeitsfehler macht oder manches nicht so ernst nimmt. Kinder sind eben verschieden, und deshalb können die Vorsorgeuntersuchungen von Geschwisterkindern komplett gegensätzlich verlaufen.


Wir hatten gleich montags morgens um 8 Uhr einen Termin, diese Vorsorgen werden bei unserer Kinderärztin vor der regulären Sprechstunde gemacht. Ich bereitete die Kleine und mich selbst auf die verlangte Trennung direkt nach Ankunft vor, und ich denke, sie wäre auch problemlos mitgegangen, so wie sie es bei ihrer U8 vor einem Jahr schon getan hat. Aber überraschenderweise wurde diesmal nichts dergleichen verlangt und wir konnten zusammen in den Untersuchungsraum gehen, wo der Seh- und Hörtest gemacht wurden. Ich kam mir etwas veräppelt vor, nach dem Riesentheater beim Großen damals, und überlegte die ganze Zeit, ob die Praxis aus der Erfahrung damals (die sich bestimmt mit anderen Eltern wiederholte) gelernt hatte oder ob vielleicht sogar meine Beschwerdemail bei der Ärztekammer eine Rolle spielte.

Der Sehtest verlief sehr gut, der Hörtest weniger. Einerseits war die Kleine etwas erkältet, andererseits versuchte sie auch zu schummeln bzw. nahm die ganze Sache etwas zu leicht. Das merkte ich schon währenddessen an ihren Antworten, und die Ärztin bestätigte das nachher. Den Hörtest müssen wir nun demnächst wiederholen. Dann ging es weiter mit dem räumlichen Sehen, dem Sprachtest, Messen, Wiegen, auf einem Bein hüpfen, einen Ball werfen und fangen, auf Zehenspitzen und Hacken laufen und der körperlichen Untersuchung. Sie wiegt aktuell 19,3 kg bei einer Größe von 1,12 m und befindet sich exakt auf der mittleren Perzentile. Der Große war seinerzeit 21,2 kg schwer und 1,18 m groß.


Beim Zusammensetzen eines Puzzles benötigte sie Hilfe bei den letzten beiden Formen, und meiner Meinung nach strengte sie sich auch hier nicht genügend an. Als sie sich nach der körperlichen Untersuchung wieder anziehen sollte, um ein Bild zu malen, verlangte sie doch allen Ernstes meine Hilfe beim Anziehen der Leggins. Ich lachte und sagte zu ihr: "Na, du willst wohl jetzt ganz schnell mit Malen anfangen?!" Ich sah nämlich schon am Blick der Ärztin, dass sie das selbstständige Anziehen beobachtete, und sagte klar und deutlich, dass sie sich schon mit 2 Jahren selbst angezogen hat und dasjenige meiner beiden Kinder ist, was sich jeden Morgen problemlos, schnell und meist allein anzieht (im Gegensatz zum Großen). Die Kleine weiß natürlich nicht, dass die Ärztin ein unselbstständiges Anziehen evtl. als Problem notieren würde, und wollte einfach schnell zum Malen übergehen. Deshalb stellte ich dies klar, bevor es wieder thematisiert würde, und die Ärztin akzeptierte es. Sie kennt die Kleine ja nun auch schon ein wenig:-).

Bezüglich ihrer leichten Ausspracheprobleme geben wir uns immer noch ein wenig Zeit, ich schilderte der Kinderärztin, dass sich viele minimale Fehler in den letzten Monaten schon von selbst erledigt hatten. Auch hier ist es so, dass die Kleine, wenn sie sich konzentriert, alles perfekt meistert, jedoch oft eine zu große Leichtigkeit an den Tag legt, wodurch sich Fehler in ihre Artikulation einschleichen oder sie in Babysprache verfällt. Ich weiß und die Ärztin bestätigte dies auch, dass das bei vielen Kindern der Fall ist. Da ich aber den Großen im direkten Vergleich kenne, der sich in diesem Alter schon sehr bemüht hat, alles richtig zu machen, kommt mir die Kleine wie ein Schusselkopf vor. Sie hat einfach nicht den Anspruch des Perfektionismus und ist viel unbekümmerter, macht dadurch kleine Fehler, ist aber auch sehr natürlich und sympathisch. Sie ist viel mehr ein typisches Kind, was der Große nie war.

Besonders glücklich war ich, als sie beim Untersuchen der Haut der Kleinen keine erneuten Neurodermitisherde feststellte. Zur Erinnerung: die U8 vor einem Jahr hatte ja die traurige Erkenntnis zutage gebracht, dass die Kleine aufgrund des emotionalen Stresses, den sie empfunden hatte, als ich mit dem Großen zur Mutter-Kind-Kur war, Neurodermitis entwickelt bzw. ihre Veranlagung zum ersten Mal ausgebrochen war. Eine schreckliche Gewissheit für mich und mit viel schlechtem Gewissen verbunden. Zwar waren die Neurodermitisherde in den Wochen nach meiner Rückkehr wieder verschwunden, aber die Angst blieb natürlich trotzdem, dass sie bei erneutem Stress wieder ausbrechen würden. Aber glücklicherweise gab es vorerst Entwarnung; zwar ist sie anfällig dafür, aber im Moment sieht alles gut aus. Mir fiel ein Stein vom Herzen.

Dann sollte die U9 schon beendet sein. Ich staunte und merkte an, dass beim Großen noch sehr viele andere Tests gemacht wurden, wie z.B. Sätze ergänzen, Vergangenheitsformen bilden, männliche und weibliche Formen benennen sowie schwierig auszusprechende Wörter (Zischlaute) nachsprechen. Das war für mich damals sehr spannend gewesen und ich war verblüfft, was er alles schon wusste. Auf meine Anmerkung hin bestätigte sie, dass sie früher viel mehr abgefragt habe, dies aber eingestellt hat, weil sie einen Rüffel von der Ärztekammer bekam, weil sie damit Tests durchführte, die weit über die von den Kassen bezahlten Leistungen hinausgingen. Wieder stutzte ich, als die Ärztekammer ins Spiel kam...


Ihrer Einschätzung nach ist die Kleine super entwickelt, fröhlich, aufgeschlossen, umgänglich und hat alles, was ein 5-jähriges Kind nach den Kriterien der Vorsorgeuntersuchungen können muss, reibungslos gemeistert. Sie fragte noch, ob es mit ihr Probleme zuhause oder in der Kita gäbe, aber ich hatte tatsächlich nichts auf dem Herzen. Klar treibt sie mich immer mal wieder in den Wahnsinn und zeigte in den letzten anderthalb Jahren komplett andere Gesichter als in den ersten 3,5 Jahren, aber so ist eben anscheinend ihre Entwicklung, und gerade wird sie wieder etwas ruhiger. Wir besprachen noch kurz ein Problem, was den Großen betraf, und das war so bezeichnend: nach der U9 der Kleinen ein Problem des Großen zu besprechen.

Dann marschierte die Kleine hinaus, als wäre nix gewesen, ich hinterher, und wir fuhren zusammen zur Kita, wo ich sie um 9:30 Uhr abgab. Das nachfolgende Gefühl kam mir so unwirklich vor: keine bleierne Schwere, kein emotionales Ausgelaugtsein, kein aufgewühltes Nachhallen wie damals beim Großen nach dieser unsäglichen Diskussion über die Notwendigkeit der Trennung und die spätere "Versöhnung". Einfach eine normale U9 mit einer (für meinen Geschmack etwas zu) entspannten Kleinen und keinen Problemen, die über das Übliche hinausgehen. In solchen Situationen kommt bei mir immer wieder das Gefühl der ersten Jahre mit ihr hoch, diese Leichtigkeit, diese Ausgeglichenheit, diese Sicherheit im Mamasein, was mir ja in der zuletzt nervenaufreibenden Zeit mit ihr abhanden gekommen ist.

Deutlich wurde wieder einmal, dass sie ein komplett anderer Charakter als der Große ist. Während er bei jeder Sache gewissenhaft überlegt und erst eine Antwort gibt, wenn er sich sicher ist, alles Ernst nimmt und sehr perfektionistisch ist, nimmt sie alles viel leichter, schert sich nicht um Fehler und Schusseligkeiten und liefert trotzdem ein sehr gutes, wenn auch nicht perfektes Ergebnis ab. Ich staunte wieder über ihre Unbekümmertheit und über die großen Unterschiede zwischen meinen beiden Kindern. Eigentlich war es schade, dass nicht all diese sprachlichen Tests mit ihr gemacht wurde, die der Große noch hatte. Es hätte mich interessiert, wie sie sich darin geschlagen hätte. Aber spätestens zur Einschulungsuntersuchung wird das auf die Agenda kommen. Und ich bin unheimlich gespannt, wie sie dann die Schulzeit meistern wird.

Denn nächstes Jahr wird sie eingeschult und ab August ist sie ein Vorschulkind!

Dienstag, 26. Juni 2018

Mehr von allem: "So viel Freude, so viel Wut. Gefühlsstarke Kinder verstehen und begleiten" (Rezension)

Dieses Buch ist ein Feuerwerk! Ein Feuerwerk an Informationen, an Liebe, an Empathie, an Wertschätzung, an Unterstützung. Die erste Auflage war innerhalb kurzer Zeit ausverkauft, die Lesereise der Autorin sehr erfolgreich und der von ihr geschaffene Begriff der gefühlsstarken Kinder etablierte sich in Windeseile in interessierten Elternkreisen. Es geht um das Buch "So viel Freude, so viel Wut. Gefühlsstarke Kinder verstehen und begleiten" von Nora Imlau, das Ende Mai 2018 im Kösel Verlag erschienen ist. Nora Imlau ist Journalistin und Fachautorin und eine der wichtigsten Expertinnen für Baby- und Kleinkindthemen im deutschsprachigen Raum.

Gefühlsstarke Kinder - was ist das überhaupt? Haben nicht alle Kinder starke Gefühle, in manchen Phasen ausgeprägter, in anderen weniger? Durchaus, aber bei den in diesem Buch beschriebenen Kindern geht es um eine bestimmte Temperamentsausprägung, um Kinder, die einfach anders sind als ihre Altersgenossen, die von allen Gefühlen nur die Extremvariante zu kennen scheinen und die selten richtig ausgeglichen oder mit sich im Reinen zu sein scheinen: "Sie sind extrem feinfühlig und gleichzeitig extrem impulsiv, extrem neugierig und extrem schnell von neuen Reizen überfordert, extrem nähebedürftig und extrem freiheitsliebend, extrem mutig und extrem ängstlich, extrem begeisterungsfähig und extrem schnell am Boden zerstört." (S. 18f.) Sie sind bedürfnisstärker, fordernder und damit für ihre Bezugspersonen anstrengender als andere Kinder und gleichzeitig steckt in ihnen ein großartiges Potential, das mit empathischer und adäquater Begleitung zur Entfaltung gebracht werden kann.

Definition

Den Begriff "Gefühlsstarke Kinder" hat Nora Imlau in Anlehnung an Mary Sheedy Kurcinkas Terminus "Spirited Children" geschaffen. Ich habe das wunderbare Buch von Kurcinka, das auch Nora Imlau inspiriert hat, unlängst hier vorgestellt. Bei Kurcinka geht es ebenfalls um Kinder mit einer bestimmten Spielart des Temperaments, und Nora Imlau greift diese Erkenntnisse auf und hat mit "So viel Freude, so viel Wut"* das erste deutschsprachige Buch zu diesem Thema vorgelegt. Auch hat sie die Facebookgruppe "Gefühlsstarke Kinder verstehen und begleiten" gegründet, in der ein sehr ausgewogener, empathischer Austausch stattfindet. Der Begriff "Gefühlsstarke Kinder" soll explizit den Fokus auf die positiven Aspekte dieses Temperaments legen, anstatt immer wieder genannte Attribute wie schwierig, anstrengend, unangepasst, wild, fordernd, unzufrieden zu reproduzieren. Es ist ein Begriff, der "die ganze Kraft und den ganzen Reichtum ihres besonderen Temperaments zum Ausdruck bringt". (S. 21)

Laut Kurcinka und Imlau ist jedes siebte bis zehnte Kind gefühlsstark, wobei es sich nicht um eine Anomalie oder Krankheit, sondern um eine besondere Ausprägung der Persönlichkeit, des Temperaments handelt, die durch bestimmte Merkmale charakterisiert wird. Es gibt starke Überschneidungen zu High-Need-Kindern und hochsensiblen Kindern, wobei Imlaus "Gefühlsstärke" laut ihrer Definition über Hochsensibilität hinaus geht.

Typische Eigenschaften gefühlsstarker Kinder sind:
  • Sie erleben alle Gefühle sehr intensiv
  • Sie sind extrem ausdauernd und hartnäckig 
  • Sie sind sehr empfindlich und leicht irritierbar
  • Sie sind sehr reizoffen und nehmen alles wahr
  • Sie brauchen Struktur und Routinen und können mit Abweichungen schlecht umgehen
  • Sie haben ein hohes Energieniveau, sind aktiv und oft unruhig
  • Sie kommen schlecht mit Veränderungen und Übergängen klar
  • Sie sind oft kritisch, pessimistisch und unzufrieden

Die Eltern gefühlsstarker Kinder merken meist schon sehr früh, dass ihr Baby bzw. Kleinkind anders ist als andere, denn oft schläft es wenig, schreit schnell und viel, lässt sich schwer beruhigen, liegt nicht ruhig auf der Spielmatte, ist ein wählerischer Esser, hat ausgeprägte Wutanfälle, ist immer in Bewegung und selten mal ruhig und zufrieden. Je nach elterlicher Disposition und vielen anderen Faktoren wie vorhandener Unterstützung, Feedback und Regenerationsmöglichkeiten kommen Eltern unterschiedlich mit diesem herausfordernden Temperament klar, fühlen sich allein gelassen und unverstanden und fragen sich mal mehr, mal weniger, warum das Kind so ist, wie es ist. Imlau macht jedoch absolut deutlich, dass keiner dafür verantwortlich ist oder sogar "Schuld" daran trägt, sondern es sich um ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal handelt, das zwar nicht verändert, aber durchaus liebevoll begleitet werden kann, damit das Kind seine Besonderheiten nicht als Schwäche, sondern als Stärke, Bereicherung und Chance empfindet.

Sehr wichtig bei der Begleitung gefühlsstarker Kinder ist beispielsweise die Co-Regulation durch Bezugspersonen. Diese Kinder haben aufgrund ihrer Disposition eine nur schwach ausgeprägte Selbstregulation und fallen durch ihre besonders empfindliche Amygdala, die "Alarmanlage des Gehirns", schnell in eine Stress- und Überreaktion, werden von ihren Gefühlen überwältigt und können sich nicht selbst beruhigen. Hier ist die Unterstützung der Bezugspersonen unglaublich wichtig, denn nur durch immer wiederholte Beruhigung und Trost von außen finden diese Kinder in ihre innere Mitte zurück und können Fähigkeiten entwickeln, die sie später in die Lage versetzen, sich selbst aus Stress- und Krisensituationen herauszuholen. "Wir Eltern sollten es unbedingt als unsere Aufgabe verstehen, unser Kind mit seinen überbordenden Emotionen nicht alleine zu lassen, sondern gemeinsam mit ihm nach einem Weg zu suchen, mit seiner intensiven Gefühlswelt besser klarzukommen." (S. 85) Entscheidend sind Verständnis und Empathie, so dass man aus dem Kampfmodus aussteigen und in den Beziehungsmodus finden kann.

Die Rolle der Eltern

Nun ist das je nach Disposition der Eltern, die auf ein gefühlsstarkes Kind treffen, nicht ganz einfach, und Imlau schildert mehrere mögliche Konstellationen im Familienleben, die besondere Schwierigkeiten, aber auch besondere Chancen bieten. Diese Seiten (ab S. 96) empfand ich persönlich als besonders erleuchtend, denn je nach Kombination Elternteil - Kind entwickelt sich eine ganz unterschiedliche Dynamik, wie mit diesem Temperament umgegangen wird. Besonders explosiv ist die Konstellation, wenn ein gefühlsstarkes Elternteil auf ein gefühlsstarkes Kind trifft, und diese Kombination ist sehr wahrscheinlich, denn Gefühlsstärke wird vererbt. Imlau schildert hier einige hilfreiche Tipps und Methoden, denn in jeder dieser Konstellationen müssen nicht nur die Kinder, sondern vor allem auch die Eltern lernen, mit ihren eigenen Emotionen und denen des Kindes umzugehen, denn das Verhalten des gefühlsstarken Kindes kann alte Wunden triggern. Ein sehr bereicherndes Kapitel!

Das Buch stellt immer wieder klar, dass man an gefühlstarke Kinder nicht mit den Maßstäben, die für andere Kinder gelten, herangehen kann. Ein Kind schläft, wenn es müde ist, isst und trinkt, wenn es hungrig und durstig ist, ruht sich aus, wenn es erschöpft ist, beruhigt sich schnell, wenn man sich ihm zuwendet? Diese Maßstäbe gelten für gefühlsstarke Kinder nicht oder nur bedingt. Sie haben eine schwach ausgeprägte Selbstregulationsfähigkeit und eine niedrige Schwelle des Stressempfindens. Oftmals übertreten sie ihre eigenen Grenzen, ohne es zu merken, oder wir Eltern übertreten sie ungewollt, was wir meist erst durch die nachträgliche heftige Reaktion des Kindes merken. Wir sind dazu da, die Stressauslöser des Kindes zu erkennen und ihnen Strategien zum Umgang mit ihnen zu vermitteln.

Gefühlsstarke Kinder brauchen nicht nur Co-Regulation im emotionalen Bereich, sondern auch beim Schlafen, beim Essen, beim Körpergefühl, bei der Balance zwischen Aktion und Ruhe und profitieren von vorhersehbaren, festen Strukturen und Routinen. Gleichzeitig mögen sie keine Fremdbestimmung, sind sehr freiheitsliebend und oft auch rebellisch, haben ein starkes Gerechtigkeitsempfinden und einen großen Unabhängigkeitsdrang. Die Gratwanderung ist manchmal sehr schwierig und muss immer wieder neu austariert werden, Das alles erinnert sehr an die von Jesper Juul beschriebenen autonomen Kinder, die ich in mehreren Blogtexten vorgestellt habe. Sicherlich gibt es auch hier Überschneidungen, wie zu den Themen hochsensible und High-Need-Kinder.

Für die Co-Regulation von gefühlsstarken Kindern im Alltag gibt es viele praktische Tipps, Anregungen und Hilfestellungen im Buch, die man sich als Elternteil eines solchen Kindes jahrelang mühsam selbst erarbeitet hat. Dies so geballt schwarz auf weiß zu lesen, ist unglaublich bestätigend, und Nora Imlau schafft es durch ihre feinfühlige, empathische und gleichzeitig sachliche Art des Schreibens, dass man sich als Eltern nie schlecht fühlt, auch wenn man vielleicht mal nicht optimal reagiert, was ja völlig normal ist, besonders in schwierigen Persönlichkeitskonstellationen. Es gibt Tipps für die Babyzeit, für die Eingewöhnung in Betreuungseinrichtungen und für die Schulzeit, ebenso wie für das Familienleben mit einem gefühlsstarken Kind, z.B. das Umgehen mit Geschwistern, das Achten auf individuelle Energiequellen, unterschiedliche Erziehungsvorstellungen von Eltern und weiterem Kinderwunsch.

Und trotz aller Schwierigkeiten und Herausforderungen geht es auch immer wieder um das Potential dieser Kinder, um den Reichtum dieses Temperaments, um die Chance des Miteinander-Wachsens. Gefühlsstärke beinhaltet höchste Emotionen, sowohl negativ als auch positiv. Die Begeisterungsfähigkeit, Neugierde und Leidenschaft dieser Kinder, die Ausdauer und der Gerechtigkeitssinn, die Feinfühligkeit und Empathie können Früchte tragen, wenn "sie mit unserer Begleitung lernen, ihre starken Gefühle zu regulieren, ohne sie zu unterdrücken" (S. 295).

Fazit

Dieses Buch ist eine wunderbare Schatztruhe an Erkenntnissen und Hilfestellungen für den Umgang mit gefühlsstarken Kindern. Es bringt dieses Thema erstmals so umfassend auf den deutschen Buchmarkt und wird unzähligen Eltern dieser Kinder helfen, sich nicht mehr ganz so hilflos und allein zu fühlen. Und in vielen Eltern, die einstmals selbst gefühlsstarke Kinder waren, aber nicht adäquat begleitet wurden, schmerzhafte Erinnerungen und Emotionen wecken, die dazu beitragen können, sich zu reflektieren und vieles anders zu machen.

Als Mutter eines hochsensiblen, gefühlsstarken Kindes, das introvertiert, aber trotzdem explosiv, das fordernd und gleichzeitig so verletzlich ist, das sich unglaublich positiv entwickelt hat und trotzdem immer wieder Co-Regulation benötigt, fühle ich mich total abgeholt und aufgefangen von diesem großartigen Buch. Es öffnet die Augen, es bestätigt, es regt zum Erkennen und Nachdenken an, und vor allem, es entlastet. Es zeigt deutlich auf, dass man weder allein mit noch schuld an dem besonderen Temperament seines Kindes ist, sondern die Aufgabe bekommen hat, dieses Kind in all seinen Herausforderungen, aber auch seinen Möglichkeiten zu sehen und angemessen zu begleiten, damit es sein Potential entwickeln kann.

Das Buch berührte mich schon auf den ersten Seiten tief und ließ mich nicht mehr los. Die Schreibweise von Nora Imlau ist so warmherzig und gleichzeitig sachlich, so alltagsbezogen und unterstützend, dass man sich beim Lesen wie in einer geborgenen Glocke fühlt. Man spürt, dass ihre eigenen Erfahrungen mit hineinfließen und es ein Herzensthema für sie ist, und trotzdem gelingt es ihr, das Thema aus einer übergeordneten Perspektive zu beschreiben. Ein wirklich wundervolles Werk und eine Pionierarbeit zu diesem Thema, eine Bereicherung und Erleuchtung für Eltern gefühlsstarker Kinder und alle anderen natürlich auch. Ich weiß noch, wie ich auf dieses Buch stieß, die Hashtags des Verlags las, Nora Imlau auf Twitter anschrieb und dann wusste, das passt! Ich bin unglaublich dankbar, dass es das Buch gibt, denn auch wenn es für unsere allerschwierigsten Jahre zu spät kam, wird es in Zukunft unzähligen Eltern helfen.

Ich wünsche dem Buch viele Leser, damit das Verständnis für das Thema, für angeborene Temperamente und für Eltern untereinander wächst. Gefühlsstarke Kinder sind ein Geschenk - ein herausforderndes und ganz besonderes Geschenk. Dieses Buch trägt dazu bei, dass wir Eltern es auch als solches empfinden.

Klare Leseempfehlung aus tiefstem Herzen!


Die Eckdaten:
Nora Imlau: So viel Freude, so viel Wut. Gefühlsstarke Kinder verstehen und begleiten*, Kösel Verlag, Mai 2018, 320 Seiten, ISBN 978-3466310951, 20,- €


Hier könnt ihr ein Video sehen, in dem Nora Imlau über ihr Buch (und über ihr eigenes gefühlsstarkes Kind) spricht:
https://www.youtube.com/watch?v=LEL86zHNW-g


Vielen Dank an den Kösel Verlag für das Rezensionsexemplar!


Wenn euch meine Rezension gefallen hat, würde ich mich sehr freuen, wenn ihr mich unterstützt und mir über diesen Link symbolisch einen Kaffee spendiert:-):



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Samstag, 16. Juni 2018

Ein Kinofilm und eine unerwartete Begegnung

Gestern war ich im Kino und habe mir den Film "Tully" angesehen. Darin geht es um eine Mutter, die ziemlich überfordert und unglücklich in ihrem Leben mit drei Kindern, darunter ein Neugeborenes und ein sehr herausforderndes Kind, ist und die mit Hilfe einer Nacht-Nanny, die sie nicht nur nachts mit dem Baby, sondern auch im Haushalt und auf psychischer Ebene unterstützt, wieder zu ihrem früheren Ich, ihrer Lebensfreude und Abenteuerlust zurückfindet. Der Film stellt Mutterschaft und Familienleben ungeschönt und realistisch dar und macht klar, dass das Kinderhaben nicht nur keinesfalls zum Lebensglück einer Frau führen muss, sondern sie im Gegenteil sogar unglaublich destabilisieren kann.

Ich war allein, das Kino war fast leer und der Film bewegte mich sehr, denn das Gefühl, mit der Mutterschaft zu hadern und unglücklich zu sein, kenne ich nur zu gut. Als ich anfing zu bloggen, war dieses Gefühl noch sehr präsent. Ebenso gut kenne ich die Sehnsucht nach dem früheren Ich und dem Leben vor den Kindern, was die Liebe zu ihnen aber in keinster Weise schmälert; deshalb spiegelte dieser Film gewissermaßen genau die Ambivalenz, die ich mit mir herumschleppe, seit ich Mutter bin. Schon in meinem allerersten Blogpost überhaupt (Ich sollte nicht ins Kino gehen) habe ich diese ambivalenten Gefühle beschrieben, bezeichnenderweise auch an einem Kino-Beispiel.

Als ich das Kino verließ, war ich ziemlich zerknautscht und verheult, erschöpft von der Arbeitswoche, müde wegen Kopfschmerzen und insgesamt emotional derangiert. Ich wollte nur noch nach Hause und diese Gefühle verarbeiten, bis ich wieder in meiner Mitte sein würde. In diesem Moment klopfte mir jemand von hinten auf die Schulter. Ich drehte mich um - und blickte ins Gesicht meines ersten Freundes, der ebenso überrascht war, mich an diesem Ort, in dieser Millionenstadt Berlin wiedergefunden zu haben. Unsere Beziehung ist 20 Jahre her und wir hatten uns bestimmt 10 Jahre nicht mehr gesehen, aber er sah noch fast genauso aus wie damals und ich hätte ihn auch sofort erkannt. Da er selbst in einen Film gehen wollte, hatten wir nur kurz Zeit zum Reden, aber das war vielleicht ganz gut, denn ich war ziemlich durcheinander.

Die Begegnung mit diesem Freund, der aus einem früheren, kinderlosen (wenn auch nicht problemlosen) Leben stammte, setzte quasi den Emotionen, die in mir waberten, die Spitze auf. Er verkörperte als kinderloser, ungebundener, selbstständig arbeitender Mann, der sich ein wenig unser damaliges Studentenleben bewahrt hatte, in diesem Moment die Sehnsucht nach dem früheren Leben, die durch den Film aufgebrochen war. Ich schämte mich dafür, dass ich so verhärmt, müde, ergraut, augenberingt und zusätzlich noch verheult aussah und ihm das Bild einer gealterten, erschöpften und zerrissenen Zweifach-Mutter darbot. Gleichzeitig war es total skurril, diesem ehemals vertrauten Menschen gegenüber zu stehen und zu sehen, dass dieser sich fast nicht verändert hat, weder äußerlich noch in der Lebensweise, wohingegen ich selbst mich im Vergleich zur damaligen Zeit durchaus verändert und durch die Mutterschaft in vielen Aspekten völlig neu kennengelernt habe.

Bildquelle: Pixabay

All diese Gedanken und Gefühle schwirrten durch meinen Kopf und parallel versuchte ich, in der Kürze der Zeit halbwegs sinnvolle Informationen auszutauschen. Es war wirklich merkwürdig, wie sich quasi der Film durch diese unerwartete Begegnung fortsetzte. Als wir auseinandergingen, hatte ich das Gefühl, gleich zwei bewegende Ereignisse verarbeiten zu müssen. Zum Glück hatte ich danach die nötige Zeit und Ruhe dazu. Als würde der Zufall dieser Begegnung nach so vielen Jahren noch nicht ausreichen, kam sie in einem Moment, der sowieso schon sehr emotional und labil war. Das war sehr verwirrend und hinterließ ein unabgeschlossenes Gefühl. Genau wie der Film "Tully", dessen oberflächlich betrachtetes Happy End für mich keines war.

Und um den Bogen zu meinen beiden wunderbaren Kindern zu schließen: besonders berührt hat mich in dem Film die Figur des (wahrscheinlich autistischen) Jungen Jonah, der mich in seinen Herausforderungen, seinen Ängsten, seinen Eigenarten, seiner Wut, seinen Problemen mit Übergängen und Neuem und seiner Starrheit sehr an meinen Großen erinnerte und mir gleichzeitig wieder einmal die riesengroße, verblüffende und wunderbare Entwicklung, die mein Großer gemacht hat, vor Augen führte. Denn mein Großer war einst ein ähnliches Kind wie Jonah, aber er hat sich unglaublich verändert. Nicht nur ist er stabiler, ausgeglichener, offener und flexibler geworden, sondern auch wir haben in den meisten Bereichen gute Wege für uns alle gefunden. Er ist fröhlich, beliebt, gemeinschaftskonform, anerkannt, anpassungsfähig und kein Außenstehender, der ihn kennt, würde ihn mit dem Jungen Jonah aus dem Film in Verbindung bringen.

Doch wir kennen ihn von Geburt an und wissen um seine (und unsere) Schwierigkeiten. Eine unglaublich tolle Entwicklung hat er gemacht, was wir auch durchaus bemerken und würdigen, aber dies nun so deutlich und bewegend im Vergleich zu Jonah zu sehen, war sozusagen die dritte emotionale Herausforderung an diesem Abend für mich. Und brachte das Thema der Kinder wieder mitten hinein in meine Gedanken, das Kreisen und Ringen um die Mutterschaft.

Denn das Eine gibt es bei mir nicht ohne das Andere. Es gibt nicht nur die Zerrissenheit und das Hadern, sondern auch die Liebe und die Freude über die Kinder. Es gibt den Freiheitsdrang und die Dankbarkeit. Es gibt Streit und Harmonie. Es gibt die unfassbar komische Situation, wenn du deinem Kind eines deiner absoluten und emotionalsten Lieblingsduetts, "One" von Bono und Mary J. Blige vorspielst und es dann sagt: "So, und jetzt bitte Biene Maja!". Das alles umfasst meine Mutterschaft. Dieser Abend, dieser Film und diese Begegnung brachten all dies wieder einmal zu Bewusstsein. Das ist schmerzhaft und schön zugleich, wie das Leben eben oft ist. Insofern war es weitaus mehr als:

Ein Kinofilm und eine unerwartete Begegnung.

Freitag, 8. Juni 2018

Die erste Kitareise der Kleinen im Mai 2018

Am vergangenen Freitag habe ich meine Kleine von ihrer ersten Kitafahrt abgeholt. Als der Bus kam und die Kinder ausstiegen, mussten viele Eltern ein Tränchen verdrücken. Sehr emotional ist das, wenn dein Kind wiederkommt, nachdem es 4 Tage allein mit den Kitafreunden und Erziehern verreist war. Bei der Kleinen kam hinzu, dass es das erste Mal für sie war und ihre allerengsten Freundinnen nicht mit von der Partie waren. Bisher verbrachte sie lediglich ein Mal 2 Tage und Nächte bei den Großeltern, aber mit dem Großen zusammen. Außerdem hängt sie emotional sehr stark an uns und braucht beispielsweise noch eine deutlich intensivere Einschlafbegleitung, als es beim Großen im gleichen Alter der Fall war. Aber sie wollte diese 4 Tage unbedingt schaffen und war unheimlich stolz, als sie wiederkam.

Der Große war schon ein Jahr früher, nämlich mit 4 1/4 Jahren, zu seiner ersten Kitafahrt aufgebrochen, und wir empfanden damals zwar Vorfreude und Spannung, hegten aber auch viele Bedenken und Sorgen. Die Zeit ohne ihn war gleichzeitig erleichternd und aufwühlend, angenehm und sehr emotional zugleich. Er war damals noch sehr instabil und es war natürlich auch für uns als Eltern die erste solche Erfahrung, von kurzen Großeltern- und Kitaübernachtungen abgesehen. Er hat in den letzten Jahren 3 Kitafahrten mitgemacht und ist von Jahr zu Jahr daran gewachsen. Beim ersten Mal war er nach der Rückkehr ungenießbar und ließ alle unterdrückten Emotionen bei uns zuhause raus. Das war sehr anstrengend, aber es schien ihm trotzdem gefallen zu haben, er hatte Spaß, kein Heimweh und passte sich super in die Gruppe ein. Bei seiner zweiten Kitafahrt waren wir schon gelassener und die Fahrt im Vorschuljahr war emotional gesehen ein Spaziergang. In dieser Zeit seiner Abwesenheit (vor einem Jahr) hatten wir übrigens in der Wohnung umgeräumt und der Kleinen ein eigenes Kinderzimmer eingerichtet. Wir sind also durchaus mittlerweile erfahren, was solche Reisen und Abschiede angeht, aber wie wir alle wissen, sind Kinder verschieden und meine Kinder erst recht.

Die Kita hatte diesmal ein anderes Feriendorf ausgewählt, wo die Wohnverhältnisse etwas anders waren, wodurch pro Bungalow ca. 5 Kinder mit einem/r Erzieher/in untergebracht waren. Es war ebenfalls im Wald und an einem schönen See gelegen. Auch war es etwas näher als das andere Camp, so dass wir im Fall des Falles relativ schnell dort gewesen wären. Und ich rechnete durchaus damit, dass wir die Kleine eventuell abholen müssten. Die Abendsituation hielt ich für sehr labil, da sie das Einschlafen noch nicht ohne direkte Unterstützung schafft, und ich befürchtete auch, dass sie nach 2 Tagen nach Hause will, weil sie dann vielleicht genug gesehen und Sehnsucht nach uns gehabt hätte. Das wäre für uns auch völlig okay gewesen und ich stellte mich darauf ein. Ich wusste aber auch, dass ihr Wille, es zu schaffen, sehr stark war, und ahnte, wie stark diese beiden Pole miteinander ringen würden.

Im Gegensatz zu den Kitafahrten des Großen machte ich mir wenig Sorgen, was ihre Selbstständigkeit und vor allem Selbstfürsorge angeht. Ich wusste, dass sie sich ums Essen und Trinken kümmern würde, wenn sie Hunger und Durst hat, auf's Eincremen und auf Insekten achtet und ihre Bedürfnisse äußert. Sie hat einen guten Orientierungssinn und findet sich schnell in fremden Umgebungen zurecht. Sie sagt, wenn sie traurig ist und holt sich Kuscheleinheiten aktiv. Dass sie nicht klar kommen oder überfordert sein würde, glaubte ich nicht. Aber sie empfindet eine starke Sehnsucht nach ihren liebsten Menschen, braucht viel Körperkontakt und würde sich, denke ich, nicht scheuen, zu sagen, dass sie nach Hause will. Das einzige, was mir Sorgen bereitete, war, dass ihre engsten Freundinnen nicht mit dabei waren.

Am Montag, dem 28. Mai, brachte der Papa morgens die Kinder weg, zuerst den Großen in die Schule und dann die Kleine mit ihrem Koffer in die Kita, wo die Gruppe dann am Vormittag mit dem Bus aufbrach. Obwohl sie in den Tagen davor immer Probleme beim Abgeben hatte und oft weinte, biss sie diesmal die Zähne zusammen und marschierte in den Kitagarten hinein. Sie hatte sich ja auch gefreut und stand zuhause schon um 7 Uhr fertig angezogen in der Tür. Die Kitafahrer hatten in den 4 Tagen wunderbares, heißes Wetter und waren die meiste Zeit am See und im Feriendorf. Leider gab es anscheinend nicht so viel Programm wie auf den Kitafahrten des Großen (Kutschfahrt, "Nachtwanderung"), aber vielleicht ist das auch gar nicht nötig. Eine Kinderdisco fand viel Anklang und ansonsten war der See natürlich der Hit. In der Wochenmitte wurden die Postkarten der Eltern verlesen. Dazu erzählte mir die Kleine, dass sie da geweint hätte und Sehnsucht bekommen hat. Ja, das gehört auch dazu. Am letzten Tag wurde alles eingepackt und am Freitag Mittag stiegen knapp 40 fröhliche, stolze und geschaffte Kinder aus dem Bus aus.

Eine Erzieherin raunte mir noch am Bus zu, wie toll und selbstständig die Kleine gewesen sei und dass sie alles super mitgemacht habe. Natürlich habe ich mich einige Tage später auch mit anderen Erzieherinnen ausgetauscht und alle bestätigten mir, wie großartig sie diese Herausforderung gemeistert hat und wie sie über sich hinaus gewachsen ist. Insgesamt hat die Gruppe toll zusammengehalten und viel Spaß gehabt. Phantastisch und eine sehr bereichernde Erfahrung für alle (wenn auch in meinen Augen 1-2 Tage zu lang).

Der Große und ich spielten an einem Nachmittag ganz in Ruhe und ausgiebig Tischtennis im Park, was mit der Kleinen zusammen kaum möglich ist. Das genoss er sehr. An einem Nachmittag war er bei Freunden und an einem anderen Nachmittag holte ihn der Papa ab, so dass ich durchaus auch ungewöhnlichen Freiraum in dieser Woche hatte. Diesmal wurde auch nichts in der Wohnung umgeräumt;-). Ich genoss die Ruhe und Konfliktfreiheit der Ein-Kind-Situation, gleichzeitig dachte ich viel an die Kleine und wie es ihr wohl ergehen würde.

Als sie wieder bei uns war, wirkte sie zwar geschafft, aber durchaus zufrieden und unheimlich stolz. Sie erzählte von sich aus einige Begegebenheiten, nicht übermäßig viel, aber deutlich mehr als der Große seinerzeit. Der größte Unterschied war aber, dass keinerlei Verarbeitung oder Kompensation nötig schien. Weder ließ sie unterdrückte Emotionen an uns aus noch mussten wir sie auffangen und wieder in die Spur kriegen. Sie war fröhlich, ausgeglichen und mit sich und der ganzen Sache im Reinen. Lediglich, als der Papa kam und sich nicht sofort ausführlich um sie kümmerte, fing sie bitterlich an zu weinen. Aber auch hier ließ sie sich schnell wieder trösten, als ich ihr Problem verbalisierte. Sie hat wirklich ein ganz anderes Wesen als der Große und ihre Art, mit solchen Situationen umzugehen, ist sehr verschieden von seiner. Obwohl ihr Verhalten uns ja in den letzten anderthalb Jahren oft wahnsinnig herausgefordert hat, empfinde ich ihre Fortschritte, Veränderungen und Entwicklungen immer noch als "smoother" als beim Großen. Das ist sehr spannend.

Ich freue mich jedenfalls sehr, dass es ihr gefallen hat und sich ihre Überwindung (denn das war es mit Sicherheit) gelohnt hat. Im nächsten Jahr möchte sie wieder mitfahren - dann als Vorschulkind kurz vor ihrer Einschulung. Und hoffentlich mit ihren engsten Freundinnen zusammen. Denen sie dann alles zeigen wird. Als "alter Kitafahrt-Hase":-).