Das Buch, das ich heute vorstellen möchte, ist ganz neu auf dem Markt und im Herder Verlag erschienen: "Ist unser Sohn hochsensibel? Hochsensibilität bei Jungen erkennen und verstehen"*. Die Autorin Uta Reimann-Höhn ist Pädagogin, Mutter zweier Söhne und hat schon einige Ratgeber verfasst, u.a. zum Thema AD(H)S. Soweit mir bekannt ist, handelt es sich bei diesem neu erschienenen Buch um das erste und bisher einzige Werk, das sich speziell dem Thema "Hochsensible Jungen" widmet. Über hochsensible Männer gibt es seit kurzem das Buch Der sanfte Krieger von Oliver Domröse, doch die Hochsensibilität bei Jungen wird in den diversen Sachbüchern nur angeschnitten, z. B. in Hochsensibel ist mehr als zart besaitet von Sylvia Harke auf S. 222ff. Mich interessiert das Thema sehr, denn mein Großer ist vermutlich hochsensibel und seine in diesem Jahr bevorstehende Einschulung beschert mir viele Gedanken und Sorgen, die um sein spezielles Wesen und sein Klarkommen in diesem unindividualistischen System Schule kreisen. Dafür habe ich im Buch viele wertvolle Anregungen und Tipps bekommen. Es ist allerdings, und das habe ich fast erwartet, im Wesentlichen ein Buch über hochsensible Kinder, nicht nur Jungen.
Die Autorin startet mit einer kurzen Einführung anhand von Fallbeispielen und geht erfrischend schnell ins Detail, ohne sich an langen Erklärungen oder Diskussionen über das Phänomen der Hochsensibilität aufzuhalten. Man sollte also schon ein wenig Vorwissen zu dem Thema haben. Danach folgt das Kapitel "Positive Merkmale von hochsensiblen Jungen", in dem sie zum einen beschreibt, was hochsensible Kinder besonders gut können, zum anderen aber auch erwähnt, worunter solche Kinder gerade in der heutigen Zeit leiden. Und sie geht auf die speziellen Herausforderungen hochsensibler Jungen/ Männer ein, denn: "Besonders schwer haben es die Jungen, denn noch immer wird von ihnen erwartet, einem klassischen Rollenbild zu folgen. Ein Junge, der nicht tobt, kämpft und sich durchsetzt, wird häufig nicht ernst genommen." (S. 41f.) Und: "Hochsensible Jungen können ihre Gefühle und ihre Wahrnehmung der Welt selten mit anderen Männern teilen." (S. 139)
Spezielle Herausforderungen von hochsensiblen Jungen im Vergleich zu ihren nicht hochsensiblen Geschlechtsgenossen sind z.B.:
-
die Abneigung gegen Körperlichkeit und Konkurrenzkampf: "Gerangel
und Kämpfchen mögen sie nicht und vermeiden Auseinandersetzungen, wo
immer es geht. Streitereien und Konflikte - Alltag im Kindergarten und
für manche Jungen ein großer Spaß - sind ihnen verhasst." (S. 46)
- die Abneigung gegen Gruppen- und Wettkampfspiele
- die Abneigung gegen den Genuss von Fleisch bzw. überhaupt das selektive Essverhalten
- ihre Vorsichtigkeit, Ängstlichkeit und mangelnde Experimentierfreudigkeit, Abneigung gegen Höhe und Geschwindigkeit, fehlende Risikofreude
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ihre Emotionalität, ihr Einfühlungsvermögen, ihre Tendenz zum
Vermittler und Nicht-Eignung zum "Anführer", ihre Entscheidungsscheu und Bedachtsamkeit
Nach der Einführung folgt ein Test mit 25 Fragen, der sich am bekannten Test von Elaine Aron orientiert und deren Fragen auf Jungen fokussiert. Die Fragen passen naturgemäß auf Kinder beides Geschlechts. Ich finde die diversen Tests zwar immer interessant, denke aber, dass es genau wie bei der Frage der eigenen Hochsensibilität genauso stark darauf ankommt, ob man sich selbst oder sein Kind in den Beschreibungen der Literatur bzw. den Erfahrungsberichten erkennt. Sucht man Antworten auf Fragen oder Hilfestellungen für Herausforderungen, dann beschäftigt man sich weiter mit dem Thema, unabhängig davon, wieviele Punkte man oder das Kind erreicht hat.
Danach geht die Autorin ausführlich auf die verschiedenen Lebensphasen eines Kindes ein: Baby- und Kleinkindzeit, Schuljahre und Pubertät. Sie bestätigt, dass man schon bei Säuglingen erste Anzeichen einer Hochsensibilität wie schnelle Überreizung, schlechtes Abschalten, unstillbares Schreien, starkes Fremdeln, Einforderung von Struktur und gewohnten Dingen etc. erkennen kann, konstatiert aber, dass "vielen Eltern [...] die Besonderheit dieses Verhaltens gar nicht auf[fällt], besonders wenn es sich um das erste Kind handelt" (S. 41). Das kann ich aus unserer Geschichte heraus nicht bestätigen, ich habe von Anfang an Erklärungen für das in meinen Augen auffällig ungewöhnliche und kräftezehrende Verhalten meines Großen gesucht. Auch in der Kleinkindzeit sieht man deutlich die Anzeichen für eine Hochsensibilität von Kindern, vor allem beim Thema Essen und Kleidung, Körperpflege (Waschen, Friseur, Nägelschneiden etc.), Fixierung auf wenige Bezugspersonen, Überforderung im Kindergartenalltag, Geräuschempfindlichkeit, Konfliktscheu usw. Eltern können hier durch viel Verständnis und Einfühlsamkeit großen Einfluss auf die Entwickung des Kindes nehmen.
Eine besondere Herausforderung für hochsensible Kinder ist die Schulzeit, die man gerade für diese Kinder sehr gut vorbereiten sollte. Aus diesem Kapitel habe ich angesichts der bei uns bald bevorstehenden Einschulung viele interessante Anregungen und Tipps mitgenommen. Die Umstellung auf diesen (wie auch auf jeden) neuen Lebensabschnitt kann bei hochsensiblen Kindern deutlich mehr Zeit einnehmen als bei anderen. Schule ist in fast allen Komponenten wesentlich anstrengender als der Kitaalltag. Das Kind braucht also noch mehr Regenerationsmöglichkeiten und Ruheoasen. Der Beziehung des Kindes und der Eltern zum Lehrer/zur Lehrerin kommt eine enorm große Bedeutung zu. Da hochsensible Kinder auf jegliche Art von Druck negativ reagieren, müssen bis dahin Strategien gefunden werden, um mit dem steigenden schulischen Druck umzugehen. Auch das Thema Freundschaften bringt nun besondere Herausforderungen mit sich, die Ansprüche an die Anpassungsfähigkeit an die Peergroup wachsen und Klassenfahrten sowie Teamsport sind nicht immer positive Erfahrungen für hochsensible Kinder. Perfektionismus, geringe Frustrationstoleranz, Kritikempfindlichkeit, Ruhebedürftigkeit, starkes Gerechtigkeitsempfinden, mangelndes Selbstbewusstsein machen sich während der Schulzeit noch deutlicher bemerkbar als vorher.
Besonders in der Pubertät, dieser extremsten Phase der Selbstfindung, hat die Veranlagung hochsensibler Jungen keinen Platz. Vieles, woran andere Jugendliche Freude haben, ist für Hochsensible Folter (Konzerte, Disko, Fußballspiele, Partys). Sie fühlen sich deshalb schnell ausgegrenzt und einsam, wenn sie bis dahin nicht einen oder mehrere Gleichgesinnte gefunden und diese Freundschaften auch gepflegt haben. Eine gute Methode nicht nur zum Finden von Gleichgesinnten, sondern auch zum Aufbau von Selbstbewusstsein ist das möglichst frühzeitige Aussuchen eines passenden Hobbys, wodurch sowohl Selbst- als auch Fremdbestätigung erlangt werden kann. Hierbei sollten gerade die Eltern unterstützend wirken und gemeinsam mit dem Kind/ Jugendlichen eine Leidenschaft/ ein Hobby suchen, was fordert, ohne zu überfordern, das den Kontakt zu Gleichgesinnten herstellt und Bestätigung gibt. Wenn dies nicht vorhanden ist, besteht gerade für hochsensible Jungen in der Pubertät das Risiko, an falsche Freunde zu geraten: "Werden sie von einer Gemeinschaft freundlich und ohne Bewertung ihrer Persönlichkeit aufgenommen, stellen sie deren Motive möglicherweise nicht mehr infrage." (S. 140) Deshalb ist es unabdingbar, das eigene Kind mit all seinen Facetten anzunehmen und ihm Wege zu zeigen, wie es Selbstbewusstsein und Resilienz erlangen kann. Bei der späteren Berufswahl sollten nicht nur die Interessen, sondern auch die Rahmenbedingungen (Großraumbüro, Außenkontakte, Flexibilität) berücksichtigt werden.
Zum Abschluss des Buches folgen in gebündelter Form wichtige Tipps für Eltern hochsensibler Kinder, eine Zusammenfassung und ein paar Anlaufstellen sowie Literaturvorschläge.
Zusammenfassung:
Das Buch liest sich sehr gut und flüssig, ist verständlich und praxisnah geschrieben. Ein paar Vorkenntnisse über Hochsensibilität sollte man schon besitzen. Die Fallbeispiele veranschaulichen die theoretischen Aspekte, man findet Situationen wieder, die jeder, der ein hochsensibles Kind hat, schon erlebt hat. Für mich war besonders die ausführliche Behandlung der Schulzeit unglaublich interessant und ich habe in diesem Kapitel viele sehr gute Ratschläge gefunden, die ich berücksichtigen werde. Vieles mache ich schon richtig und doch bleibt die Sorge vor den großen Herausforderungen der Schulzeit. Das Buch hat mir sehr geholfen, meinen diffusen Ängste etwas zu ordnen und zu beruhigen. Ich werde dezidiert auf die beschriebenen Punkte achten und hoffe, dadurch zu einer sicherlich nicht unanstrengenden, aber von Verständnis und Unterstützung getragenen Schulzeit für meinen Großen beizutragen.
Einige Äußerungen haben mir überhaupt nicht gefallen und mich sehr an veraltete pädagogische Muster erinnert, z.B.: "Achten Sie darauf, dass Ihr Kind solche Wutanfälle nicht dazu benutzt, seinen Willen durchzusetzen.[...] Diese Unterscheidung müssen Sie treffen, um Ihrem Kind klare Grenzen aufzuzeigen und sich nicht von ihm manipulieren zu lassen." (S. 43) oder auch "Vermeiden Sie es, gerade auch bei Schulkindern, bis zum Einschlafen am Bett sitzen zu bleiben." (S. 94) Solche pauschalen Aussagen kann ich nicht nachvollziehen, man sollte sich aber auch nicht zu sehr daran festbeißen.
Insgesamt kann ich die Lektüre dieses Buches jedem, der sich für das Thema hochsensible Kinder, speziell bei Jungen, interessiert, empfehlen. Viele der beschriebenen Aspekte passen auf beide Geschlechter und einige Bereiche sind für hochsensible Jungen besonders brisant. Sicherlich ist es für hochsensible Jungen noch schwieriger, ihren Weg zu finden, als für Mädchen. Der Rolle der Eltern bzw. Bezugspersonen kommt hier große Bedeutung zu. Im Buch finden sich äußerst wertvolle Tipps für das liebe- und verständnisvolle Navigieren durch die Kindheit und Jugend eines hochsensiblen Jungen.
Die Eckdaten:
Uta Reimann-Höhn: Ist unser Sohn hochsensibel? Hochsensibilität bei Jungen erkennen und verstehen*, Herder Verlag, Januar 2017, 192 Seiten, ISBN 978-3451614040, € 19,99
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Hallo liebe Frühlingskindermama,
AntwortenLöschenich bin selber hochsensibel mit einer ebenfalls hochsensiblen Tochter von knapp 3 Jahren. Was das Thema Hobbies angeht, so kann ich das nur bestätigen, das ist wirklich wichtig. Meine Mutter hat mich im Alter von 9 Jahren in einem Leichtathletik Verein angemeldet. Ich habe die ersten Trainings wirklich verabscheut, aber meine Mutter kannte ihre Tochter und hat mich nicht flüchten lassen. Es hat sich gelohnt! Man schließt Freundschaften, hat Erfolgserlebnisse und wächst über sich hinaus. Vielleicht ist das später auch was für Euren Großen? Denn es ist zugegebenermaßen nicht der "Coolen-Sport" wie Fußball oder Basketball. Und insofern herrscht auch nicht so viel Druck. Man sportelt eigentlich für sich... und ist durch das Training und einige Mannschaftsevents wie Teamwettkämpfe oder Staffelläufe doch auch gemeinsam stark. Diese Sportart war zumindest für mich der ideale Mix!
Als kleine Anregung... ;)
Herzliche Grüße,
Anja
Hallo,
Löschendanke für Deine Erfahrungen! Wir werden sehen, was ihm liegt, im Moment lässt sich da noch nichts ausmachen. Ich selbst habe es mehrmals in Leichtathletik-Vereinen versucht, aber es war absolut nichts für mich, obwohl ich Leichtathletik mochte. Aber Vereinsmeierei habe ich schon immer gehasst. Ich glaube, es muss eher was individuelles sein. Aber es kommt auch darauf an, ob schon ein Freund hingeht etc. Mal sehen. Wichtig finde ich ein Hobby, ob Sport oder was anderes, auf jeden Fall.
Liebe Grüße!