Interview mit Jesper Juul vom 20. Juli 2015
Herr Juul, in einigen Ihrer Bücher
schneiden Sie das Phänomen der autonomen Kinder an. Das sind
besonders unabhängige, kompromisslose, nicht manipulierbare Kinder,
die man nicht nach gängigen Maßstäben erziehen kann. Ich stelle
das Thema auf meinem Blog vor und habe große Resonanz dazu bekommen. Es scheint viele solcher
Kinder zu geben, auch wenn das Thema nicht sehr bekannt ist. Wie
sind Sie selbst auf das Thema aufmerksam geworden?
Juul:
Ich entdeckte diese Kinder vor vielen
Jahren, als ich in einem Institut für „Verhaltensauffällige
Kinder“ (9-16) arbeitete. Sie werden oft als „jenseits
pädagogischer Erreichbarkeit“ beschrieben und ich fand heraus,
dass sie sehr wohl erreicht werden können, wenn man ihre Autonomie
respektierte. Wenn ihre Eltern dazu auch in der Lage waren, waren
alle zufrieden und manchmal waren wir auch erfolgreich darin, ihre
Lehrer oder Pflegeeltern anzuleiten.
Warum gibt es bisher so wenig
Forschung dazu? Werden Sie sich darüber zukünftig mal
ausführlicher äußern?
Juul:
Die meisten Untersuchungen arbeiten
nach dem alten Paradigma, das sich nicht daran orientiert, wie Kinder
ihre eigenen Lebenswirklichkeiten und Beziehungen wahrnehmen, sondern
sich auf die Schwierigkeiten konzentriert, die Erwachsene haben, wenn
sie versuchen, mit ihnen in Beziehung zu treten oder sie zu erziehen.
Im Allgemeinen wird das Verhalten von Eltern und Pädagogen nicht in
Frage gestellt. Stattdessen werden Erziehungsmethoden erdacht.
Kennen Sie persönlich autonome
Kinder? Wenn ja, wie kommen Sie mit ihnen klar, wie begegnen Sie
ihnen, was machen Sie, wenn Sie nicht mehr weiter wissen?
Juul:
Ich kenne Hunderte, darunter meinen
Enkel, der jetzt 10 Jahre alt ist. Mein Glück ist, dass ich mich nie darauf fokussiert habe, mit Kindern in einer kindangepassten Weise umzugehen. Deshalb bin ich ihnen einfach wie
Erwachsenen begegnet. Als Ergebnis waren diese Kinder nie
„schwierig“, wenn sie mit mir allein waren. Es dauerte allerdings
fast 30 Jahre, bis ich mir dessen bewusst wurde. Deshalb rate ich oft
Erwachsenen, die „alles versucht“ haben, einfach die Wahrheit
auszudrücken, zum Beispiel: „Ich weiß jetzt einfach nicht mehr
weiter mit Dir, kannst Du mir helfen?“
Viele Eltern berichten, dass die Autonomiephase mit solchen Kindern eine ungeheuerliche Herausforderung ist. Wie kommen beide Seiten unbeschadet hindurch?
Viele Eltern berichten, dass die Autonomiephase mit solchen Kindern eine ungeheuerliche Herausforderung ist. Wie kommen beide Seiten unbeschadet hindurch?
Juul:
Für wahre autonome Kinder ist es nicht
nur eine Phase, sondern eine lebenslange Existenzweise. Es stimmt,
dass alle Kinder eine Phase wie diese durchmachen – im Alter von
ca. 2 Jahren (was die Amerikaner „The Terrible Two“ nennen), und
es ist auch wahr, dass viel zu viele Eltern sich in dieser Phase
destruktiv verhalten, weil sie das natürliche und gesunde Verhalten
ihrer Kinder als „Trotz“ interpretieren.
Der beste Weg, um schädliches
Verhalten gegenüber beiden Arten von Kindern zu vermeiden, ist, ihr
Bedürfnis nach Autonomie anzuerkennen und ehrlich und offen
zuzugeben, welche Schwierigkeiten die Eltern haben. Es schadet einem
Kind nicht, wenn seine Eltern den adäquaten Umgang mit ihm schwierig
finden, so lange sie dem Kind nicht die Schuld dafür geben – d.h.
„Ich finde es schwierig/ unmöglich, mit Dir angemessen umzugehen“
anstatt „Du bist unmöglich…“. Letzteres gibt dem Kind die
Schuld, anstatt dass der Erwachsene die Verantwortung für seine
erfolglose Anleitung übernimmt.
Haben Sie schon einmal ein
autonomes Kind über viele Jahre hinweg begleitet und gesehen, wie
es sich weiterentwickelt? Haben Sie spezielle Tipps für die
Schulzeit und die Pubertät?
Juul:
Ja, viele, und sie werden oft sehr
erfolgreich. Viele von ihnen müssen einen unbequemen Weg gehen, wenn
sie Liebesbeziehungen eingehen, weil ihre Partner ihre Autonomie als
Mangel an Liebe interpretieren.
Der Tipp ist immer derselbe: wahrhaftig zu sein und die Autonomie der anderen Person zu respektieren. Auf diese Weise können wir eine Menge mit und von diesen Kindern lernen, und je bereitwilliger wir uns auf diese Regel einlassen, umso erfolgreicher werden wir als Eltern und Lehrer sein.
Viele Rückmeldungen zu meinen
Texten handeln davon, dass die Eltern sich rückblickend auch als
autonome Kinder erkennen, wenn auch durch Erziehung gedeckelt. Was
meinen Sie dazu, ist diese Wesensausprägung vererbt?
Juul:
Ich habe die gleiche Erfahrung, aber
ich weiß nicht, ob die Veranlagung vererbt wird.
Was viele Eltern als schwierig im
Umgang mit einem autonomen Kind empfinden, ist die Zurückweisung
der elterlichen Liebe. Haben Sie dafür eine Strategie oder einen
Trostgedanken, damit man das nicht zu persönlich nimmt?
Juul:
Es ist wichtig, dass diese Eltern
realisieren, dass ihr Kind nicht die Liebe zurückweist, sondern
lediglich die Art und Weise, wie sie sie ausdrücken. Was von ihren
Geschwistern höchst geschätzt werden mag, lehnt das autonome Kind
ab. Das ist ähnlich wie bei erwachsenen Partnern: die Art und Weise,
wie wir unseren zweiten Partner zu lieben lernen müssen, ist anders
als beim ersten.
Wie stehen Sie zu dem Gedanken, es handle sich bei autonomen Kindern eigentlich um ADHS-Kinder?
Juul:
Das ist kompletter Unsinn. Autonome Kinder haben kein Aufmerksamkeitsdefizit. Es ist aber dennoch interessant, dass ADHS-Kinder auch positiv reagieren, wenn sie würdevoll behandelt werden.
Herr Juul, ich danke Ihnen sehr für die Beantwortung der Fragen und hoffe, dass die Forschung zu diesem Thema voranschreitet.
Ich möchte weiterhin auf meinem Blog Erfahrungsberichte über autonome Kinder sammeln und rufe ausdrücklich dazu auf, diese hier zu teilen. Sollte ich auf neue Forschungsergebnisse stoßen, werde ich diese ebenfalls hier vorstellen. Wer die auf Englisch gegebenen Original-Antworten nachlesen möchte, kann sich gern bei mir melden. Mit diesem Interview habe ich mir übrigens meinen eigenen, in diesem Text vom April 2015 geäußerten Wunsch erfüllt.
Ich danke Herrn Jacob Hochrein vom Beltz Verlag für die Vermittlung des Interviews und die freundliche Betreuung. Gern verweise ich in diesem Zusammenhang auf ein neu aufgelegtes Buch von Jesper Juul im Beltz Verlag: Das Familienhaus: Wie Große und Kleine gut miteinander auskommen.
Hier die Vorgängertexte:
Autonome Kinder
Autonome Kinder Teil 2
Hier der Verweis auf Teil 4 zur Pubertät:
Autonome Kinder Teil 4 - Pubertät
Und hier ein Link zum Erfahrungsaustausch in einem Babyforum:
https://www.rund-ums-baby.de/erziehung_elternforum/Autonome-Kinder-suche-Erfahrungsaustausch_81648.htm
Wenn euch meine Artikel über "Autonome Kinder" weitergeholfen haben, würde ich mich sehr über ein kleines Dankeschön freuen. Über diesen Button könnt ihr mir einen Kaffee "spendieren":