Freitag, 29. Januar 2016

Erinnerungsfetzen III - Spießrutenlauf

Heute erzähle ich wiedermal eine Begebenheit aus der Babyzeit des Großen, die sich ins Gehirn eingebrannt hat, weil sie so charakterisch und kräftezehrend war. Er war ein knappes halbes Jahr alt, meine Eltern waren zu Besuch und wir machten einen Ausflug in den Tier- und Freizeitpark Germendorf, den wir schon kannten, bevor wir Eltern wurden. Eine Woche vor der Geburt des Großen waren wir hochschwanger dort gewesen und wussten, das nächste Mal würden wir mit einem Baby wiederkommen. So war es dann auch, nur dass alles ganz anders gekommen war, als wir es uns vorgestellt hatten.

Ich vermute mal, dass der Große auf der halbstündigen Fahrt im Auto etwas geschlafen hatte, obwohl er sich damit ja schwer tat und meist hysterisch schrie. Mit Sicherheit war der Schlaf wieder einmal zu kurz, er wachte ja auch sofort auf, wenn das Auto (oder der Kinderwagen) stehenblieb. Wir waren noch nicht lange im Freizeitpark, da wurde er schon wieder unruhig. Ich stillte, wir trugen ihn weiter herum, er wurde quengelig, ich stillte wieder, er zappelte, meine Eltern übernahmen, es half nichts, sobald man ihn in den Kinderwagen legte, fing er an zu schreien, wie üblich. Der Untergrund war leider sehr glatt, also nicht einschlafförderlich. Ich wollte ihn eigentlich durch das Stillen etwas dösig machen und dann auf dem Arm in den Schlaf schuckeln, so dass wir ihn in den Wagen legen könnten. Pustekuchen. Es war zu unruhig, zu fremd, zu viele Eindrücke, zuviel "Jetzt schlaf doch endlich!". Wir schirmten ihn ab, ich suchte mir ruhige Ecken, stillte immer wieder, aber es half alles nichts. Eltern verzweifelt, Großeltern hilflos. Wir wollten doch nicht schon wieder umkehren!

Es gab keine andere Möglichkeit, als ihn zum Schlafen zu zwingen. Er wehrte sich sowieso fast immer dagegen und es war jedesmal ein Spießrutenlauf, bis er eingeschlafen war. Das aber, was folgte, war der allerschlimmste Spießrutenlauf der ganzen Babyzeit. Da keiner von uns 4 Erwachsenen Erfolg damit hatte, ihn zu beruhigen und sanft zum Schlafen zu bewegen, er sich immer mehr aufbäumte und völlig überdreht und überreizt war, weiteres Herumtragen und Stillen nur noch mehr dazu beigetragen hätten und keiner irgendeine Initiative ergriff, weil jeder ratlos war, wusste ich mir nicht anders zu helfen, als ihn in den Kinderwagen zu legen und loszufahren. Er schrie, als ob die Welt untergehen würde, und der unvermeidliche Kommentar "Da hat aber einer Hunger!" ließ nicht auf sich warten. Ich schrie die Dame an, die Nerven lagen blank... Es gab eine einzige, kurze (vielleicht 100 m lange) Strecke, die gepflastert war und richtig holperte. Diese Strecke fuhr ich mit dem hysterisch schreienden Kind im Wagen bestimmt 30 Mal ganz langsam auf und ab. Es ruckelte wunderbar und unter "normalen" Umständen wäre er nach wenigen Minuten eingeschlafen. Aber er war auf 180, schrie sich die Seele aus dem Leib und es dauerte sehr lange, bis der Weg seine Wirkung zeigte. Bis dahin wäre ich abwechselnd am liebsten im Boden versunken und heulend weggerannt. Es war furchtbar! Und bei allen anderen Eltern schliefen die Kinder natürlich seelenruhig im Wagen.

Quelle: Pixabay

Meine Mutter schaute mich hilflos und mitleidig an, wann immer ich ihren Weg kreuzte. Ich fühlte mich von aller Welt verlassen, allein mit einem schreienden Baby, das sich nicht beruhigen ließ. Ich weinte, wie oft beim Kinderwagenschieben. Als er endlich, endlich eingeschlafen war, fühlte ich mich leer und ausgebrannt. Ich wusste, es hatte keine andere Möglichkeit gegeben, aber es war trotzdem einfach nur schrecklich. Für ihn, für mich, für alle Beteiligten. Wie schön es früher gewesen war, als wir einfach selbstbestimmt solche Ausflüge gemacht hatten. Als er sicher und tief schlief, übernahmen abwechselnd mein Mann und meine Eltern den Kinderwagen. Man musste ja schieben, durfte nicht stehenbleiben und Kaffee trinken. Er schlief sehr lange, hatte es also nötig gehabt. Danach war er ausgeruht und wir verbrachten noch einige Zeit im Freizeitpark. Ich glaube, er schrie dann im Auto auf dem Nachhauseweg wieder, aber nichts übertraf den Spießrutenlauf im Freizeitpark.

Ich weiß, dass es die richtige Entscheidung war, aber es war eine unglaublich zermürbende, verzweifelte, kräftezehrende Situation, die mir bis heute deutlich vor Augen steht. Und die ich deshalb mit euch teilen möchte. Der eine belastende Aspekt war sein unstillbares, unberuhigbares, durch Übermüdung und Überreizung hervorgerufenes Schreien, das wir auch aus vielen anderen Situationen kannten. Der andere war das Gefühl, dass ich allein für sein Wohlbefinden und sein Seelenheil verantwortlich bin. Beides zusammengenommen war einfach zuviel. An diesem Tag und in seiner gesamten Babyzeit.

Und hier die bisherigen Erinnerungsfetzen:
Erinnerungsfetzen I
Erinnerungsfetzen II

11 Kommentare:

  1. Einfach nur Horror. Alleine die Situation, dass das Baby unberuhigbar schreit, die Hilflosigkeit und Verzweiflung und das ganze dann in der Öffentlichkeit, wenn entweder "kluge" Ratschläge kommen oder einen abwertende Blicke zugeworfen werden. Ich glaube, wenn man solche Situationen nicht kennt, kann man gar nicht nachvollziehen, wie furchtbar das ist.
    Ich finde es echt bewundernswert, dass ihr euch für ein zweites Kind entschieden habt nach den ganzen zermürbenden Erfahrungen mit dem Großen. Und es freut mich für dich, dass hier alles etwas einfacher war und du dadurch auch positive Erlebnisse hattest!
    LG

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    1. Ja, absoluter Horror! Ich weiß nicht, ob andere da gelassener sind. Ich war's nicht.
      Und nein, wir wollten definitiv kein zweites Kind. Sie war ja eine Überraschung, nach vielen Jahren Kinderwunschzeit vor dem Großen hat keiner damit gerechnet. Aber dass sie gekommen ist, war das Beste, was mir - und dem Großen - passieren konnte :-)
      Liebe Grüße!

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  2. oh, da wusste ich gar nicht! Und wegen der Gelassenheit: ich glaube, irgendwann ist es für die stärksten Nerven zu viel, es ist ja auch immer der Erfahrungskreislauf, dass sich das Kleine trotz allem nicht beruhigen lässt und ist auf das Schreien richtiggehend konditioniert...:-/

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  3. Oh Mann, da steht mir beim Lesen ja der Schweiß auf der Stirn! Das ist wirklich fies. Ein schreiendes Kind und NICHTS hilft und dann noch unterwegs....Ich hätte auch geheult! Hab ich übrigens oft. Ich hab 3 kleine Kinder im jeweiligen Abstand von 1,5 Jahren. Als das 2. da war hab ich oft geheult, weil zwei Kinder schreien. Und als das 3. Überraschungskind da war, heulte ich auch ganz oft, weil ich einfach nicht wusste, wie ich das alleine mit den dreien manchmal machen sollte. Die "Mitte" schreit nämlich auch von Anfang an bis heute zu ständig und ohrenbetäubend. Da hatte ich auch schon Situationen....Ich kann mit dir mitfühlen!
    Aber es wird ja leichter mit jedem Jahr. Jedenfalls in gewisser Hinsicht. Lg Beatrice

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    1. Oh wow, 3 Kinder im Abstand von 1,5 Jahren, das klingt für mich wie nicht schaffbar. Hut ab! Da muss man ja schon ständig 2 Kinder herumtragen (mussten wir auch noch mit 26 Monaten Abstand). Ich kann mir gut vorstellen, wie kräftezehrend das war. Aber ja, es wird besser, je älter sie werden. Dazu hab ich auch mal geschrieben:
      http://fruehlingskindermama.blogspot.de/2015/06/kleine-kinder-kleine-sorgen.html
      Liebe Grüße und danke!

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  4. Ich danke dir dafür,dass du das mit uns teilst. Auch ich kann mich an solche Situationen erinnern. Dieses verzweifelte Weinen, das durch nichts zu beruhigen war und das erst endete, wenn sich die Püppi völlig KO in den Schlaf weinte... Die Situation im Park und v.a. diese schreckliche Hilflosigkeit kann ich sehr gut nachvollziehen.

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    1. Ganz ganz schrecklich! Es gab ja oft solche Situationen, aber sie verloren deshalb nichts von ihrem Schrecken.
      Liebe Grüße!

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  5. Das kenne ich nur zu gut. Ich bin damals auch öfter von Passanten gefragt worden, ob alles in Ordnung wäre mit meinem Baby ... Und der Satz: "Da hat aber jemand Hunger...", hat mich jedes mal ausrasten lassen. Wir waren einmal im Zoo mit unserer Kleinen, da saß am Nebentisch eine Mami mit einem Baby, das war max. 4 Wochen alt und sowas von entspannt, ich war so neidisch! Leider dachte ich damals auch noch, dass es an mir liegen würde, dass meine Kleine soviel schreit und schlecht einschläft und immer sofort aufwacht, wenn die Bewegung aufhört ... Es wurde mir aber auch ein bisschen das Gefühl gegeben. Jetzt bin ich froh, dass ich es besser weiß. Ich wünschte ich hätte solche Blogs wie deinen damals schon gekannt. Das hätte mir so geholfen <3

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    1. Oh, ich war auch so oft neidisch! Es sah bei anderen alles immer so einfach und entspannt aus. Ich habe auch oft gesagt, wenn ich damals schon Blogs gekannt hätte oder auf Twitter gewesen wäre, wäre alles nur halb so schlimm gewesen.
      Danke Dir und liebe Grüße!

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  6. OMG! Danke fürs Teilen!!! Du versetzt mich in eigene Erinnerungsfetzen zurück. Und endlich habe ich jemanden gefunden, der mich versteht und so etwas auch kennt! <3 Danke!
    Liebe Grüße,
    Steffi

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    1. Danke Dir! Virtuell gibt es so viele, die Ähnliches erlebt haben! Nur im privaten Umfeld leider nicht. Oder es spricht einfach keiner darüber :(
      Liebe Grüße!

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