Donnerstag, 3. Dezember 2015

Die verschiedenen Gesichter des Großen

Was ist das für ein Phänomen, dass der Große mit einem Elternteil allein der zuckersüßeste, entspannteste, zuvorkommendste, hilfs- und kompromissbereiteste und verständigste Junge ist, aber abends, sobald der Rest der Familie eintrudelt, sofort sein übliches zänkisches, egoistisches, provozierendes und unglaublich schnell beleidigtes Wesen an den Tag legt? Wir haben das bisher schon oft bemerkt, wenn er mit einem von uns allein war, was aber meist nur eine kurze Zeitspanne betraf und deshalb nicht ganz so auffällig war. Besonders auffällig wurde es jetzt in dieser Woche, als der Große bis auf einen Tag kränkelnd und angeschlagen zuhause blieb. Sowohl mit mir als auch mit meinem Mann war er den ganzen Tag über sehr entgegenkommend, einsichtig, höflich, hilfsbereit, selbstständig, raumlassend, hat sich sehr viel allein beschäftigt (was er kaum macht, wenn alle da sind) und hat sich ganz klar eher wie ein Partner, nicht wie ein Kind verhalten. Es gibt also nicht nur den Doppelgänger in der Kita bzw. bei Großeltern und Freunden, sondern auch zuhause in der eigenen Umgebung.


Das war so eine tolle Erfahrung und hat sowohl mich als auch meinen Mann mit dem Großen viel enger zusammengeschweißt. Einfach, weil man mal deutlich und störungsfrei gesehen hat, was für ein toller Junge in ihm steckt. Das habe ich ihm auch gesagt und ihn gefragt, ob er oft von uns hört, dass er ein toller Junge ist. Da hat er verständlicherweise "Nein" gesagt. Das ist aber auch kein Wunder, weil er eben auch nicht wie ein toller Junge rüberkommt, wenn die ganze Familie zusammen ist. Da wird nur gemotzt, gemault, gejammert, nicht im Kleinsten mal zurückgesteckt, provoziert, die Kleine geärgert, frech dahergeredet, Türen geknallt, alles boykottiert und sabotiert. Da verhält er sich wie ein aufmüpfiges Kleinkind, das zur Räson gebracht werden muss, was ich furchtbar finde und demzufolge auch eher spärlich tue. Es nützt sowieso nichts, wenn er in Rage ist, da hilft nur stoische Geduld.

Ich weiß nicht, woran es liegt, dass er sofort ein anderes Gesicht zeigt, sobald die Familie vollständig ist. Dass ihn die Familienkonstellation insgesamt stresst, weil es dann laut, trubelig, eng ist und alle um Aufmerksamkeit konkurrieren, ist mir bewusst. Deshalb versuchen wir ja auch, ihm "Allein-Zeiten" zu ermöglichen, und gehen einzeln mit der Kleinen raus. Viel mehr ist aber nicht möglich, schließlich können wir schlecht 1-2 Mitglieder unserer Familie dauerhaft entfernen. Und die Kleine braucht ihrerseits vielleicht auch mal Zeit allein daheim mit einem Elternteil. Nicht nur hat sie selbst keinen Rückzugsraum zuhause, sondern muss auch noch am Wochenende die Wohnung verlassen, damit der Große mal Ruhe hat. Das ist irgendwie ungerecht. Zum Glück liebt sie Action und kleine Ausflüge und als Rückzugsmöglichkeit scheint ihr bisher die Nacht mit mir im Schlafzimmer zu reichen. Trotzdem passen wir uns tendenziell viel mehr an den Großen an als an die Kleine.

Natürlich ist es für ein Kind angenehmer, wenn es die volle Aufmerksamkeit der Eltern bekommt, nichts teilen oder abgeben muss, sich nicht anpassen oder einfügen muss, sondern es eine 1:1-Betreuung erfährt. Sicherlich spielt auch Eifersucht eine gewisse Rolle. Das verstehe ich ja auch. Generell scheint es ihm Probleme zu machen, wenn er mehr als einem Gegenüber ausgesetzt ist. Auch wir selbst empfinden ihn mittlerweile als problematischer im Familienkontext, als wenn man mit ihm allein ist (das war früher anders, da war es allein mit ihm kaum erträglich und schaffbar). Beispielsweise fällt sein eher langsames, verzögertes, bedachtes Reagieren auf Fragen und Anweisungen im schnelllebigen Vierer-Kontext viel deutlicher als negativ oder hinderlich auf. Allein mit ihm dagegen kann man ihm meist einfach die Zeit geben, die er braucht, um sich zu sortieren, und sich ganz auf ihn konzentrieren.

Es geht aber nicht nur um solche Aspekte, sondern auch um Hilfsbereitschaft, Selbstständigkeit, Einsicht. All das ist nicht nur ausreichend, sondern durchaus übermäßig vorhanden, wenn einer allein mit ihm ist. Es waren wirklich total entspannte, kooperative Tage mit viel positivem Gefühl, viel Stolz und viel Rührung. Was uns mittlerweile am meisten auffällt, ist die Tatsache, dass er sich mit nur einem Erwachsenen in der Wohnung viel besser, länger und bereitwilliger allein beschäftigt, als wenn wir alle da sind. Gerade da wäre es nötig, aber das klappt kaum. Die Kleine macht ihn dann noch verrückt, weil sie ihm immer hinterher rennt, und er kommt gar nicht zur Ruhe.

Insgesamt haben wir beide im Moment das Gefühl, dass die Familiengesamtkonstellation ihn so stresst, dass er überwiegend negative, störende Seiten zeigt. In der Einzelbetreuung dagegen ist er eigentlich genau der Junge, wie wir ihn uns wünschen würden. Sicherlich gibt es auch da schwierige Übergangssituationen, wie das Anziehen, Fertigmachen und Rausgehen, aber generell ist das Zusammensein mit ihm dann recht problemlos und wirklich erfreulich. Aber wieso ist er bei Zurechtweisungen im 1:1-Kontext nicht gleich so tödlich beleidigt, wie es sonst der Fall ist? Weil er dann nur die eine Bezugsperson hat, an die er sich halten muss und deren "Wohlwollen" er nicht riskieren kann? Aber das war ihm eigentlich früher immer egal...

Ich selbst bin auch ein Mensch, der sich tendenziell in 1:1-Situationen wohler fühlt als mit mehreren Menschen. Das trifft selbst auf die Familie zu. Aber ich kehre dann nicht störende Seiten hervor, denke ich, sondern will mich eher zurückziehen. Das will er eigentlich auch, schafft es aber nicht, sich zu lösen und stört, bockt, ärgert und tyrannisiert dann lieber. Andererseits hängt er auch an seiner Schwester (und sie an ihm) und beide lieben es, zusammen durch die Wohnung zu toben und zu hüpfen. Er produziert also selbst auch den Lärm und die Unruhe, die ihm eigentlich zuviel sind. Ein schwieriger Kreislauf.

Habt ihr noch Erklärungen für dieses Verhalten, an die ich vielleicht noch nicht gedacht habe? Kennt ihr das Phänomen, dass ein Kind in der Gesamtfamilie ein unschönes Gesicht zeigt und allein ganz handzahm ist? Wie geht ihr damit um? An der Familiensituation lässt sich ja nicht viel ändern...

2 Kommentare:

  1. Das kllingt nach einer schwierigen Situation :/ Erklärungen kann man als Außenstehender da natürlich auch nicht so leicht liefern. Ich kann mir auch vorstellen, dass es eine Mischung aus Eifersucht und Sehnsucht nach Aufmerksamkeit ist. Ich könnte mir nur noch vorstellen, dass für ihn deshalb die Beziehung zu seiner kleinen Schwester etwas schwierig ist. Natürlich kann ich mich auch komplett täuschen. Wenn das so ist, dann verzeigh mir bitte. Vielleicht gäbe es aber Möglichkeiten,die Beziehung zwischen den beiden etwas positiver zu gestalten. Ohen Eifersucht und Konkurrenz. Etwas unternehmen, was beide gerne mögen. Ein Geschenk von seiner Schwester extra für ihn. Bestimmte kleine altersgerechte Aufgaben, die er in Bezug auf seine Schwester übernehmen kann, die zeigen dass er auf eine schöne Art und Weise Verantwortung für seine Schwester hat...

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    1. Danke Dir! Eigentlich kriegt er schon total viel Aufmerksamkeit, aber wie als Baby scheint es ihm irgendwie nie genug zu sein. Eifersucht spielt eine Rolle, aber dann wiederum hängen sie auch sehr aneinander. Wir unternehmen immer mal wieder Sachen gemeinsam mit beiden und versuchen auch, in ihm den Beschützerinstinkt für die Kleine zu wecken, ihn zu animieren, ihr zu helfen etc. Macht er aber nur selten, wenn er selbst will. Es wäre mal interessant zu sehen, wie er sich verhält, wenn beide Eltern anwesend sind, aber die Kleine nicht da ist. Das kommt aber leider nie vor, da sie noch nicht allein zu Freunden geht. Schwierig...
      Danke und liebe Grüße!

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